Das Totenhaus
in den Briefen an seine Schwester - diejenige, die sich um meinen Vater gekümmert hat. Er schrieb über die Mitinsassen und über ihr raues Verhalten und ihre seltsamen Gewohnheiten. Und darüber, wie fasziniert er war, dass diese scheinbar furchtlosen Kerle all die Orte mieden, in denen man die todgeweihten Kranken untergebracht hatte. Er brauchte nicht lange, bis er sich ein sicheres Versteck für seine Diamanten ausgedacht hatte, für die Juwelen, die ihm sein Überleben garantierten.«
»Unter den Totenhäusern.« Ich dachte an die Karte, die mir Bart Frankel kurz vor seinem Tod mit der Post geschickt hatte, und auf der jeder Zentimeter der Insel genau verzeichnet war.
»Luigi Bennino hieß der Gefangene, der für meinen Vater das Modell der Insel anfertigte. Und es war Luigi, den er anheuerte, um das Versteck für seine Juwelen zu graben. Es wäre niemandem im Traum eingefallen, dort hinzugehen, wo angeblich noch immer Krankheiten und Pest lauerten. Sogar heute gehen manche Studenten und Professoren nicht in die Nähe dieses Gebäudes hier, aus Angst, irgendwelche abgekapselten Krankheitserreger auszugraben, die noch immer ihr tödliches Gift in sich tragen.«
»Bennino war auch ein ungebildeter Bauer. Warum war er nicht genauso abergläubisch wie die anderen?«
»Vergessen Sie nicht, wofür er eingesperrt worden war, Ms. Cooper. Er war ein Grabräuber. Der junge Luigi hatte, was den Kontakt mit den lieben Verstorbenen anging, seine Bedenken überwunden, lange bevor er nach Blackwell's Island kam. Er war der perfekte Handlanger für die Bedürfnisse meines Großvaters. Nur hatte Freeland auch gelernt, nie einer anderen Person bedingungslos zu vertrauen. Und obwohl es aus seiner Korrespondenz nicht eindeutig hervorgeht, scheint es, als ob er noch einen zweiten Gefangenen angeheuert hat, der mit Bennino ein doppeltes Spiel trieb und die Diamanten woandershin brachte. Auch in den Totenhäusern, aber an einer völlig anderen Stelle.«
»Auch ein Grabräuber?« Was für ein Glück für ihn, gleich zwei von der Sorte zu finden.
»Nein. Ein Mörder. Ein Mann, der unten bei Five Points eine Prostituierte umgebracht hatte.« Five Points war der vormals berüchtigte Stadtteil, in dem jetzt unser Gerichtsgebäude stand. »Freeland schreibt in den Briefen von ihm, voll übertriebener Fürsorge für jemanden, der an Syphilis zu Grunde ging. Damit er Freelands Geheimnis mit ins Grab nahm, wurde er großzügig belohnt. Eine letzte Wohltat, die ihm Opa zukommen lassen konnte, damit seine Familie genügend Geld für eine anständige Beerdigung hatte.«
»Also wussten drei Männer von den Diamanten und wo sie vergraben waren.«
»Und alle drei starben hier auf der Insel. Der Tod meines Großvaters bei der Razzia war unmöglich vorauszuahnen. Er hatte keine Zeit gehabt, sein Vermögen zu holen. Und deshalb hätte ich gerne die Karte, Ms. Cooper. Die Karte und das Modell der Insel.« Shreve saß, die Hände auf die Knie gestützt, im Fensterrahmen und starrte mich an.
»Und Lola hatte beides?«
»Lola ist tot.«
»Aber wenn Sie sie nicht umgebracht hätten -« Er schlug sich wütend mit seinen behandschuhten Händen auf die Oberschenkel. »Warum sollte ich sie umbringen ohne vorher von ihr bekommen zu haben, was ich brauche? Es ist Claude Laverys Schuld, dass sie tot ist.«
Wie konnte ich beurteilen, was er mir erzählte?
Vielleicht hatten Chapman und ich ihm Gelegenheit gegeben, Lavery die Schuld zuzuschieben, als wir den Professoren erzählt hatten, dass man Lavery an dem Tag, an dem Lola starb, gemeinsam mit ihr ins Haus hatte gehen sehen. Vielleicht hatte Shreve das bis dahin nicht gewusst, und jetzt benutzte er diese Information, um mich glauben zu machen, dass er nicht der Killer war. Oder vielleicht waren beide in den Mord verstrickt und verantwortlich für Lolas Tod. Wie konnte ich das wissen?
Ich war jetzt zurückhaltender und redete sanft mit Shreve, da ich mir bewusst war, dass er mich vielleicht am Leben lassen würde, solange er hoffte, dass ich ihm das geben konnte, was er wollte.
Was hatte ich mit der Karte getan, bevor Mike und ich hinauf zum King's College gefahren waren? Waren seither wirklich erst weniger als vierundzwanzig Stunden vergangen? Ich biss mir auf die Lippen und versuchte, mich an den gestrigen Tag zu erinnern. Ich hatte meiner Anwaltsgehilfin die Karte zum Kopieren gegeben und ihr aufgetragen, das Original in einen meiner Aktenschränke zu sperren, bis Mike es sicherstellen konnte.
Weitere Kostenlose Bücher