Das Trauma
muss.
Dass sie das Recht hat, es zu wissen.
Klingeltöne sind zu hören, und dann meldet sie sich. Ihre Stimme ist belegt, sie scheint gerade erst aufgewacht zu sein. Mir geht auf, dass ich nicht einmal weiß, wie spät es ist, und ich werfe einen Blick auf die kleine magnetische Uhr am Kühlschrank. Viertel nach acht. Früh an einem Samstagmorgen, zu früh vielleicht.
»Hier ist Siri Bergman, habe ich Sie geweckt?«
Ich schäme mich, weil ich einfach so anrufe, aber zugleich spüre ich, dass ich nicht warten kann.
»Siri?«
Kattis Stimme, fragend, unsicher.
»Ja, Siri, aus der Gruppe. Es tut mir schrecklich leid, wenn ich Sie geweckt habe, wirklich, aber ich muss etwas mit Ihnen besprechen.«
»Ist etwas passiert?«
Ich höre Kattis’ Unruhe, die Angst, die sich durch ihre kurzen Sätze zieht.
»Entschuldigung, jetzt habe ich Sie erschreckt. Ja, es ist schon etwas passiert, aber es besteht keine … Gefahr. Im Moment jedenfalls nicht. Ich will nur mit Ihnen darüber reden. Und vielleicht nicht am Telefon.«
»Wissen Sie, es wäre tatsächlich gut, wenn wir uns heute sehen könnten.«
Kattis klingt interessiert, und ich kann mir ja denken, dass sie Bescheid wissen will. Und ich verstehe sie. Abermals schaue ich auf die Uhr, überlege, wann ich in die Stadt fahren und wann ich Kattis treffen kann. Ich habe eine Menge Arbeit zu erledigen. Eine passende Beschäftigung für den Samstagmorgen. Wir können uns in der Praxis treffen. Da wird sonst niemand sein.
»Wir können uns nachmittags in der Praxis treffen. Gegen vier. Geht das bei Ihnen?«
»Sicher! Das schaffe ich.«
Danach Schweigen, ein Schweigen, in dem Zweifel liegen.
»Sind Sie sich sicher, dass keine Gefahr besteht?«
»Aber ja doch. Ganz sicher.«
Wir beenden das Gespräch, und ich sitze da. Komme mir vor wie eine Lügnerin. Wie kann ich behaupten, es bestünde keine Gefahr? Das weiß ich doch gar nicht.
In der Praxis ist alles leer und verlassen. Wie ich angenommen habe, arbeitet niemand am Samstagnachmittag. Aina knutscht vermutlich unbeschwert mit Carl-Johan, ihrem neuesten Flirt, mit dem es erstaunlicherweise schon ungewöhnlich lange geht. Sven arbeitet bestimmt im Sommerhaus in Roslagen. Dorthin verzieht er sich seit seiner Trennung von Birgitta an jedem Wochenende. Was Elin wohl an einem Samstagnachmittag unternimmt, ahne ich nicht. Ich weiß fast nichts über sie, und mir geht auf, dass es mich auch kaum interessiert, was mich ein wenig erschreckt.
Ich vermisse unsere alte Rezeptionistin. Marianne, die sich in einer Reha-Klinik in Dalarna von den Folgen eines Autounfalls erholt. Ich weiß, dass sie lange dort bleiben und dass sie mit großer Wahrscheinlichkeit niemals in die Praxis zurückkehren wird. Das kommt mir traurig und ungerecht vor.
Ich höre die Türklingel und gehe öffnen. Kattis steht draußen, sie hat sich die langen braunen Haare wie gewöhnlich zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie träge enge Jeans, Schnürstiefel, die fast bis zu den Knien reichen, und einen gestrickten Poncho. Ich sehe, dass sie schön ist, trotz des erschöpften Zuges um die Augen und den Mund, es ist mir früher nicht aufgefallen, aber jetzt wird es deutlich.
Ich bitte sie herein, und sie geht unruhig und nervös durch die kleine Diele. Streift sich blaue Schuhbezüge aus Plastik über und lässt den Poncho an. Da die Praxis leer ist, setzen wir uns in das große Besprechungszimmer, das auch als Essens- und Arbeitsraum dient. Ich gehe in die Teeküche und fülle zwei Becher mit Kaffee aus der Kaffeemaschine, suche im Schrank nach Plätzchen oder Rosinenbrötchen und finde endlich einen roten Plastikeimer voller Vanilleträume von Kakebager in Vingåker. Als ich zurückkomme, hat Kattis den Kopf gesenkt und wickelt sich ihren Pferdeschwanz um die Finger. Sie schaut zu mir hoch.
»Es hat mit Henrik zu tun, oder? Ich weiß, es hat mit Henrik zu tun. Er wird verdammt noch mal immer schlimmer. Seit er meine Nummer hat, ruft er dauernd an.«
Sie verstummt und schaut mich flehend an. Als sollte ich ihn aufhalten. Als wäre ich diejenige, die alles wiedergutmachen kann.
»Es geht um Henrik, ja?«, fragt sie noch einmal. »Was hat er getan?«
Ich nicke bestätigend, bedauernd. Bitte um Entschuldigung, als sei alles meine Schuld.
»Er hat mich gestern Abend angesprochen. Hier vor dem Haus. Ist einfach aus dem Nichts aufgetaucht.«
Ich mache eine vage Handbewegung in Richtung Medborgarplatz.
»Er hat sich eigentlich nicht bedrohlich verhalten.
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