Das Trauma
Moment ist die Welt schön.
In der Küche ist es fast noch kälter. Ich lege einige Holzscheite in den alten Herd und zerknülle Zeitungspapier, das ich dann ebenfalls hineinstopfe.
Kaffee und ein Brot. Die Dagens Nyheter vom Freitag ungelesen auf dem Tisch. Ich fröstele und spüre Wellen der Übelkeit. Vielleicht bin ich krank. Eine Magengrippe? Oder einfach nur müde.
Das Erlebnis von gestern Abend ist wieder da. Ich sehe Henrik vor mir. Sein Blick, die rotunterlaufenen Augen, die mich fixieren, mich nicht loslassen wollen. Den geschorenen Schädel, die Haltung. Er hatte etwas Psychotisches. Plötzlich geht mir auf, dass er aussieht wie ein Bulle. Wie einer dieser müden, desillusionierten Polizisten, über die man in gesellschaftskritischen Zeitungsartikeln liest und die man im Film sieht. So einer, der mit dem Einsatzbus fährt und die Verbrecher mit seinem Gummiknüppel an Stellen schlägt, wo es keine blauen Flecken gibt.
Nicht so einer wie Markus.
Markus kann man nur schwer in ein Bullenraster hineindrücken. So schwer, dass man ihn nicht einmal als Bullen bezeichnen kann. Polizist, das ja. Er hat keine Ähnlichkeit mit den narbigen Veteranen aus den Fernsehserien. Aber er ist auch keiner von den jungen Polizisten, die in einem Fernsehdrama eine Nebenrolle haben, den enthusiastischen, bei denen man schon von Anfang an weiß, dass es ihnen irgendwo um die Filmmitte herum übel ergehen wird.
Markus ist jung, fast ein Junge. Seine ewigen Computerspiele, SMS , Facebook-Aktivitäten und Mails gehen mir bisweilen auf die Nerven. Und dann komme ich mir alt vor. Wie seine Mutter. Ich ärgere mich über seine jugendliche Naivität und seinen Optimismus. Seinen intakten Glauben daran, dass alles sich zum Besten wenden wird. Aber gleichzeitig hat er eine Autorität und eine Gelassenheit, um die ich ihn beneide. Immer wieder musste ich meine Einschätzung von ihm ändern und einsehen, dass er nicht nur ein junger Spund ist, sondern auch ein ernsthafter und kluger Mensch, der nur Gutes will. Wenn Markus zuhört, fühle ich mich angehört. Wenn Markus spricht, hören andere Menschen zu. Und Markus braust selten auf, kann seine Gefühle unter Kontrolle halten.
Ich kann verstehen, warum sie bei der Polizei geglaubt haben, er könnte ein guter Polizist werden, und ich kann verstehen, warum er bei der Kriminalpolizei gelandet ist und nicht auf dem gewöhnlichen Revier. Er ist analytisch, er kann Muster und Verbindungen erkennen. Jetzt, da er nicht hier ist, merke ich, wie sehr er mir fehlt. Sein Körper und seine Wärme, sicher, aber auch seine Gesellschaft.
Wie soll ich damit umgehen?
Ich denke daran, was Aina gestern gesagt hat. Dass ich möglicherweise feige bin, dass ich mich nicht traue, ihm eine Chance zu geben. Vielleicht ist das so, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich ihn immer wieder mit Stefan vergleiche, obwohl ich das nicht tun dürfte. Weil es das Allerverbotenste ist. Ich vergleiche seinen Körper, seinen Intellekt, seine Seele. Ich vergleiche, und immer trägt Stefan bei diesem Kampf den Sieg davon. Aber was, wenn ich Stefan nur deshalb gewinnen lasse, weil er nicht mehr da ist? Damit ich keine Entscheidung treffen muss? Weil ich nicht das Letzte loslassen will, was von Stefan noch vorhanden ist?
Stefan ist tot, und Markus lebt. Ich weiß, dass ich mich dieser Tatsache stellen muss, früher oder später, nur nicht jetzt.
Deshalb denke ich wieder an Henrik und an diese seltsame Begegnung gestern. Obwohl er mich auf einem offenen Platz angesprochen hat, wo überall Menschen in der Nähe waren, obwohl er ruhig und freundlich war, kommt mir die Bedrohung greifbar vor. Wenn ich daran denke, wie sehr er Kattis verletzt hat, bekomme ich eine Gänsehaut.
Die Frauen in unserer Gruppe.
Alle so unterschiedlich.
Ohne einen einzigen gemeinsamen Nenner, außer, dass sie Gewalt von jemandem erfahren haben, dem sie eigentlich vertrauen können sollten. Einem Freund, einem Ehemann, einem Liebhaber, einem Stiefvater.
Ich frage mich, warum Henrik mit mir sprechen wollte. Um seine Macht zu zeigen? Um Kattis klarzumachen, dass er jederzeit weiß, was sie tut? Wird er ihr etwas antun? Kann sie in Gefahr schweben? Vielleicht übertreibe ich, aber es ist schwer, neutral zu sein, wenn man selbst Gewalt und Drohungen erfahren hat. Ich lasse meinen Gedanken freien Lauf, wäge das Für und Wider ab, stehe aber schließlich auf und gehe zu meinem Aktenschrank. Ich spüre, dass ich mit Kattis darüber sprechen
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