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Das Trauma

Das Trauma

Titel: Das Trauma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Camilla Grebe
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beantworten könnte.
    Wir haben uns bei Vijay zu einer Art Krisensitzung versammelt. Aina und ich sind erschüttert von dem, was geschehen ist, davon, dass die Wirklichkeit sich in unser kleines Frauenkollektiv gedrängt hat, als wir gerade anfingen, einander kennenzulernen, dass wir abermals daran erinnert worden sind, weshalb wir uns eigentlich treffen.
    Vor dem Fenster strömt der Regen herab. Graue Wolken schieben sich über der Stadt zusammen, und ein eiskalter Wind jagt über die von Wasser vollgesogenen Rasenflächen, die das massive Klinkergebäude des Psychologischen Instituts umgeben. Es ist Freitag, und die Unigebäude leeren sich bereits, obwohl es erst kurz nach drei ist.
    Unsere dicken feuchten Herbstmäntel haben wir in eine Ecke geworfen. Vijay ist keiner, der auf so etwas achtet, aber er lebt mit einem Pedanten zusammen. Olle, sein Lebensgefährte, kann Vijays Schlamperei nur schwer ertragen. Er ist einer, der zu Hause in der Wohnung sogar T-Shirts auf gleich große Kleiderbügel hängt, der Schuhspanner aus Zedernholz in Turnschuhe schiebt, der Kabel und elektronisches Zubehör in besondere Fächer verlegt, damit sie die Wohnung nicht entstellen.
    »Verdammt«, murmelt Vijay und steckt sich noch eine Zigarette an.
    »Was machen wir jetzt?«, fragt Aina.
    »Nichts, beziehungsweise ich meine, ihr macht natürlich ganz normal weiter. Die Gruppe wird jetzt für die Teilnehmerinnen ja nur noch wichtiger. Nicht nur für diese eine Frau, sondern auch für die anderen. Und wenn diese … Kattis bedroht wird, dann muss sich doch die Polizei darum kümmern. Und ich werde für eure Praxis so einen Alarmknopf besorgen. Daran hätte ich eigentlich schon früher denken müssen.« Vijay schweigt eine Weile, mustert uns und bläst langsam einen Vorhang aus Rauch zwischen uns, auf eine Weise, die Uneingeweihte für demonstrativ halten könnten, aber ich kenne ihn. Weiß, dass er nachdenkt. Das durchdenkt, was wir berichtet haben.
    »Was?«, frage ich.
    Vijay trommelt ein wenig mit den Fingern auf dem Tisch herum und macht noch einen tiefen Zug. Irgendetwas scheint ihn zu belasten.
    »Was ich wissen möchte, ist: Wie geht es euch? Kommt ihr mit dieser Sache zurecht?«
    Im Zimmer ist es für einen Moment still, dann versucht Aina, diese Frage zu beantworten:
    »Es geht uns … so weit gut. Das glaube ich wirklich. Und ehe das alles hier passiert ist, fand ich die Selbsthilfetreffen schon richtig gut. Es ist unglaublich interessant, mit diesen vielen … Frauenschicksalen konfrontiert zu werden. Alle sind so unterschiedlich. Und doch haben sie eine Gemeinsamkeit, eben die Gewalterfahrung. Ich glaube, ich bekomme langsam ein zutreffenderes Bild davon, was Gewalt gegen Frauen wirklich bedeutet.«
    Vijay lacht leise.
    »Tatsache ist, dass sie nicht so wahnsinnig repräsentativ sind.«
    »Wie meinst du das?«, fragt Aina.
    »Ich meine nur, dass die Gruppe, mit der ihr arbeitet, nicht repräsentativ für weibliche Gewaltopfer ist. Zum Ersten ist sie ethnisch homogener, als es in Wirklichkeit der Fall ist. Ihr habt, mal sehen, eine Frau von ausländischer Herkunft. Aus Finnland noch dazu. Kulturell nahe also. Alle anderen sind Schwedinnen. Das ist nicht repräsentativ. In Wirklichkeit sind Frauen von ausländischer Herkunft gefährdeter als andere, so wie auch Drogensüchtige und Obdachlose oder behinderte Frauen. Und dann gibt es natürlich auch Kriege und Konflikte. In solchen Situationen sind Frauen und Mädchen gefährdet. Soldatinnen werden routinemäßig vergewaltigt, Frauen werden als Teil der Kriegführung vergewaltigt und verstümmelt.«
    »Aber wir haben ja keine bewaffneten Konflikte hier, in Schweden …«
    Diese Bemerkung rutscht mir einfach so heraus, und ich kann Vijay sofort ansehen, dass meine Naivität ihm auf die Nerven geht. Er lässt seine Zigarette in eine Flasche italienischen Mineralwassers fallen und beugt sich zu mir vor. Spricht langsam und betont, wie zu einem Kind.
    »Nein, aber wir haben hier viele Frauen und Mädchen, die aus solchen Gebieten kommen. Deshalb ist ihr Problem auch unser Problem. Und nicht nur auf moralischer Ebene, sondern rein praktisch. Weil wir uns eben um sie kümmern müssen.«
    Ich nicke stumm. Schäme mich meiner Unwissenheit, weil ich so unreflektiert davon ausgegangen bin, dass es bei Gewalt gegen Frauen darum geht, dass schwedische Frauen von ihren schwedischen Männern misshandelt werden, in einem Vorort, wo wohlhabende Lattetrinkerhäuser wie Pilze aus dem schweren

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