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Das Trauma

Das Trauma

Titel: Das Trauma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Camilla Grebe
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nordischen Boden schießen.
    Als hätte er meine Gedanken gehört, sagt er jetzt:
    »Es ist nicht so einfach, wie man im ersten Moment vielleicht glaubt. Es gibt keine klare Definition für Gewalt gegen Frauen. Es geht dabei nicht nur um körperliche Misshandlung zu Hause, sondern auch um Drohungen, um psychische Misshandlung, extreme Kontrolle, Zwangsverheiratung, bewusste Unterernährung von Mädchen, Kontrolle des Jungfernhäutchens. Ihr wisst schon.«
    »Aber gibt es einen gemeinsamen Nenner?«, fragt Aina.
    Vijay nickt, streicht sich über die schwarzen Bartstoppeln, die mit den Jahren immer mehr graue Sprenkel aufweisen.
    »Macht«, sagt er. »Macht und Kontrolle. Im Grunde geht es immer nur darum.«
    Ich nicke, schaue durch das kleine, ungeputzte Fenster, das kaum etwas von dem trüben grauen Herbstlicht hereinlässt.
    Macht.
    Ist es so einfach?
    Ich wüsste gern, ob der Mann, der mich einmal verfolgt hat, der mich tot sehen wollte, auch von diesem Drang getrieben wurde. Dem Drang nach der Macht, das Dasein zu kontrollieren, für Gerechtigkeit zu sorgen. Der Macht, über mein Leben zu bestimmen, über meinen Tod.
    »Ihre Tochter hat alles gesehen«, sagt Aina leise.
    »Wie alt?«, fragt Vijay blitzschnell.
    »Fünf.«
    »Dann kriegen sie nichts Gescheites aus ihr heraus. Weißt du, wie schwer es ist, eine Fünfjährige zu vernehmen? Ganz zu schweigen davon, dass man etwas braucht, das vor Gericht standhält.«
    Er schüttelt den Kopf und schaut aus dem Fenster, auf den Regen und den lehmigen Rasen. Irgendwo bellt ein Hund. Schwarze Vögel fliegen in Formation am Fenster vorbei, vielleicht auf dem Weg an einen wärmeren Ort.
    »Bist du sicher?«, frage ich.
    Vijay seufzt und schaut mich müde an.
    »Natürlich, sie werden einen Psychologen oder einen Ermittler mit entsprechender Erfahrung hinzuziehen. Sie werden sie befragen, werden aber nichts Brauchbares aus ihr herausholen. Untersuchungen ergeben, dass es ungeheuer schwierig ist, von Kindern unter fünf Jahren brauchbare Zeugenaussagen zu erlangen. Sie haben nicht dasselbe Zeitgefühl wie Erwachsene, sie vermischen Phantasie und Wirklichkeit. Erinnern sich an Details, aber nicht an das Ganze. Außerdem ist die Kleine vermutlich traumatisiert, und das kann es noch schwerer machen, zu den Erinnerungen vorzudringen. Vermutlich will sie sich nicht daran erinnern, was passiert ist. Ist sie selbst physisch verletzt worden?«
    »Nein, sie scheint keine physischen Schäden davongetragen zu haben. Sie wurde unter dem Küchentisch gefunden, mitten in einer Blutlache. In der Hand hatte sie ihre Malkreiden und eine Zeichnung.«
    »Ist die Küche der Tatort?«
    »Ich glaube schon«, antworte ich. »Es steht auch nicht fest, dass sie etwas gesehen hat. Oder was. Sie kann doch in einem anderen Zimmer gewesen und dann in die Küche gekommen sein, um ihre Mutter zu suchen, dann hat sie sie gefunden, Angst bekommen und sich unter dem Tisch versteckt. Oder nicht?«
    »Doch, ich glaube schon.« Aina sieht plötzlich blass aus, fährt sich mit beiden Händen über die Oberschenkel, wie um etwas wegzuwischen. Ihre Fingernägel sind abgeknabbert, und ich kann Reste von dunkelrotem Lack sehen.
    »Wie kann man so verdammt gestört sein, einen Menschen zu töten, den man liebt oder den man jedenfalls zu lieben behauptet?«
    Aber Vijay überhört diese Frage. Er lässt sich nicht anmerken, ob ihm das Thema behagt oder nicht, er redet mit ungeheurer Intensität weiter. Das hier ist sein Paradepferd, die Analyse der eher pathologischen Aspekte der menschlichen Psyche, der Beweggründe von Verbrechern und Gewalttätern, des Ursprungs des Bösen.
    »Dass diese Männer wirklich töten, ist überaus ungewöhnlich. Im vergangenen Jahr wurden in Schweden an die 2 700 Fälle von grober Frauenmisshandlung registriert, und es gibt sicher eine gigantische Dunkelziffer. Aber in Schweden werden pro Jahr im Durchschnitt siebzehn Frauen von einem Mann umgebracht, zu dem sie in einer engen Beziehung stehen. Dass es so endet, ist also sehr ungewöhnlich. Und wenn man sich die Täter ansieht, dann sind sie in achtzig Prozent der Fälle psychisch gestört, sechzig Prozent haben schon Gefängnisstrafen abgesessen, und fünfzig Prozent sind Alkoholiker. Ich weiß ja nichts über diesen Typen, aber die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass er zumindest eines dieser Kriterien erfüllt.«
    Ich erzähle nicht, dass ich Henrik begegnet bin, dass er mich angesprochen hat. Das Letzte, was ich will, ist, dass Vijay

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