Das Trauma
damit Tilde sich nicht so ganz unwohl fühlen sollte. Auf dem Tisch Mikrofone. Keine Bilder, keine Ziergegenstände. Nichts, was der Behaglichkeit dient. Der große Spiegel an der einen Wand ist kein Spiegel, sondern ein Fenster in ein Nebenzimmer, wo Kollegen die Vernehmung beobachten können. Und hier steht Roger Johansson, an die Fensterscheibe gelehnt, eine Hand auf der Hüfte.
Marek Dlugosz sitzt auf dem Stuhl, der dem Fenster zugewandt ist. Er sieht nicht mehr so gelassen aus. Nicht wie bei seiner Festnahme, als er einen Höllenlärm veranstaltet hat. Um Mösenhaaresbreite hätten sie den Drecksbengel wegen Körperverletzung und Widerstand gegen die Staatsgewalt vor Gericht bringen können.
Eben erst sechzehn geworden und damit gerade strafmündig. Er sollte seinem Glücksstern dafür danken, dass sie gerade nicht in der passenden Stimmung waren.
Roger Johansson fährt sich durch die kurzgeschorenen Haare, seufzt und setzt sich auf den Stuhl. Zieht ein Mittel gegen Sodbrennen heraus, um das Brennen hinter dem Brustbein zu stillen. Schärft sich ein, an diesem Tag keinen Kaffee mehr zu trinken, auch wenn die Müdigkeit immer näher kommt. Schwört sich ein weiteres Mal, weniger zu rauchen oder wenigstens auf eine mildere Sorte umzusteigen. Der brennende Schmerz zwingt ihn, sich anders zu setzen, den Rücken gerade zu machen und den Brustkorb vorzuschieben.
Es gab eine Zeit, in der er sich von kleinen Ganoven wie Marek nicht provozieren ließ, in der er ihnen sogar zugehört, sich zu ihnen gesetzt und ihnen Zeit gelassen hat. In denen er versucht hat, zu verstehen.
Als ob es hier etwas zu verstehen gäbe.
Früher einmal hat er Gnade vor Recht ergehen lassen. Hat immer wieder ein Auge zugedrückt. Geglaubt, er könnte helfen, einen Unterschied ausmachen.
Als ob das eine Rolle spielte.
Er war durch das Zentrum von Gustavsberg gewandert wie ein verdammter Vater für alle. War mit fast jedem Kind auf Grußfuß gewesen, hatte versucht, den Abschaum zu verstehen. Hatte versucht, die zu retten, die noch nicht total auf die schiefe Bahn geraten waren, versucht, die zu warnen, die sich in der Risikozone befanden.
Aber.
Mit diesem Dreck hatte er aufgehört. Man kommt zu einem Punkt, einer Art Erkenntnis – einer Waagschale vielleicht – und muss zwischen sich und denen wählen, um nicht den Verstand zu verlieren, wahnsinnig zu werden, ganz einfach.
Wie oft hatte er sich für jemanden eingesetzt und war betrogen worden? Wie oft hatten die Drecksgören ihm frech ins Gesicht gelogen? Geschworen, zum letzten Mal geklaut, geprügelt, geraucht zu haben?
Das Brennen stellt sich mit neuer Intensität wieder ein, und er muss aufstehen, einige Schritte vor dem Spiegel machen, um seine Aufmerksamkeit vom Schmerz abzulenken.
Bilder flackern vor seinem inneren Auge vorbei. Johnny Lanto in dem kleinen schrottreifen Opel.
Herrgott, warum denkt er nun an den? Es ist doch so lange her.
Auch Johnny Lanto hatte versprochen. Versprochen, sich nie wieder Vaters Auto auszuleihen. Wenn Roger ihn nur nicht verpfiff, wenn er Vater nur nicht anrief. Denn dann würde Johnny Prügel beziehen, so verdammt viele Prügel, dass er nicht mehr laufen könnte. Und das wollte Roger doch nicht? Oder?
Dann. Nächstes Bild.
Das, was einmal Johnny Lantos Gesicht gewesen war. Eine vermatschte Masse aus Blut und Fleisch. Noch ehe sie ihn umgedreht und den Ausweis aus der Brieftasche gefischt hatten, wusste er, dass es Johnny war. Die halblangen blonden Haare. Die taillenkurze blaue Stoffjacke. Der demolierte Opel, der wie ein toter Käfer auf dem starrgefrorenen Feld auf dem Rücken lag.
So viele Drecksgören hatte er sterben sehen. So viele Ganoven. Und keinen einzigen hatte er gerettet.
Hanna, die ihm versprochen hatte, clean zu sein. Und alles gehe gut, und sie freue sich wirklich über ihre Schwangerschaft, auch wenn, na ja, sie noch viel zu jung sei. Und er hatte ihr geglaubt, hatte ihre langen weichen roten Haare gestreichelt und ihr unbeholfen alles Gute gewünscht.
Nächstes Bild: Hanna auf dem Boden der Toilette im Einkaufszentrum. Der schmächtige Körper seltsam verkrümmt. Eine Hand, die an der weißen Fliese ruhte, wie um diese zu streicheln. Das Gesicht weiß, die Lippen blau. Totenstarr, wie ein verdammter Stock. Der Bauch, der unter dem T-Shirt hervorquoll. Die Spritze, die neben ihr auf dem verdreckten Boden lag.
Ade, Hanna. Goodbye, adios, adieu. Wenn ich nicht so verdammt naiv gewesen wäre, könntest du heute vielleicht
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