Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen
umher, mit der zumeist grünen, aber auch blauen oder schwarzen Künstlermasche unter dem Kinn, dem dunklen Bärtchen unter der Nase, der krausen, kaum wahrnehmbar gelichteten Künstlermähne und vor allem mit der großen Mappe mit seinen Werken unter dem Arm? So haben wir ihn alle gekannt. Er war, wie man allgemein wußte, überzeugter Zionist. In Prag wurde erzählt, er habe aus einem nicht näher bekannten Grund ein Gelöbnis abgelegt, alle Kongresse seiner Organisation zu Fuß zu erreichen. Nun liegt aber zwischen Europa und Palästina viel Wasser. Guttmann, so schmunzelte man in den Prager Kaffeehäusern, habe dennoch sein Versprechen gehalten. Er sei auf dem Schiff (geflogen wurde in jener Zeit nur sehr sporadisch und für viel Geld) unentwegt, selbst bei Nacht, von einem Ende zum anderen gelaufen. Und als er das Gelobte Land schließlich erreicht hatte, soll im Kongreßsaal verlautet worden sein: »Guttmann ist angekommen, wir können beginnen.«
Dieser wunderliche Prager, Stammgast in den meistenKaffeehäusern, dessen naive Malerei endlich in einer kleinen Galerie auf dem Altstädter Ring und in der Nachbarschaft eines neuen (nach der Jesenská) »Milena« benannten Cafés gezeigt wurde, sollte unter den ständigen Besuchern des Traumcafés fürwahr nicht fehlen.
Die Begegnung, von der ich kurz erzählen will, war freilich durchaus anderer Art. Dennoch . . .
Ich habe eine alte Dame kennengelernt, die als einfache Hilfskraft in einem Prager Krankenhaus arbeitete, um ihre dürftige Rente ein wenig aufzubessern. Meistens war sie mißgelaunt, scherte sich scheinbar einen Teufel um die Menschen ringsum, war – nun, eine typische Alte, der es nur mehr darum ging, mit den Beschwerden des Lebens irgendwie zurechtzukommen. Aber diese Alte bat mich eines Tages, für sie eine längere Abhandlung über Spinnen und Spinnentiere aus dem Englischen ins Tschechische zu übersetzen. Spinnen? Ja, denn die mürrische alte Dame erwies sich als hochinteressierte und allen zugänglichen Informationen nachspürende geradezu leidenschaftliche Naturforscherin.
»Nicht typisch für Prag«, brummt der verhinderte Stadtrat Kisch, läßt die Brille auf die Nasenspitze rutschen und nimmt einen Schluck aus der vor ihm stehenden Kaffeetasse. »Eine alte Pragerin mit Vorliebe für Spinnen? Nicht typisch.«
Doch er irrt. Für die Jahre, in denen das eiserne Regime jeden Bericht aus dem Ausland mißtrauisch abwog und zensurierte, Nachrichtensendungen aus dem Äther bis zur Unkenntlichkeit mit allerhand unangenehmen Geräuschen und pfeifenden Klängen umrauschte, wuchs, gerade auch in Prag, in begreiflichem Maße der Hunger nach Information und bei weitem nicht nur aus dem Bereich der Politik. Man wollte ganz allgemein wissen,was in der Welt los war. Und je mehr einem vorenthalten wurde, um so mehr wollte man von allem erfahren. Menschen, die sich früher nie damit beschäftigt haben, erzählten einander von Entdeckungen in der Astronomie, von Experimenten in der Kybernetik, unterhielten sich über neue Tendenzen in der Kunst, über Forschungsergebnisse aus der Tier- und Pflanzenwelt. Und so konnte es auch vorkommen, daß sich eine betagte Pragerin für Spinnen und ihr geheimnisumwobenes Leben interessierte.
Somit also doch typisch für Prag, mein lieber Egonek. Frag den Dichter Jaroslav Seifert, der es trotz seines kranken Herzens bis 1984 unter uns ausgehalten und kurz vor seinem Lebensende noch den Nobelpreis für Literatur erhalten hat, der könnte dir allerhand darüber erzählen. Du findest ihn bestimmt in der Runde der einstigen Frequentanten des Café Unionka, des Nationalcafés oder der guten alten Slavia. Habt ihr niemals, ich meine in früheren Jahren, mitunter gemeinsam ein Glas Wein geleert? Hat Seifert immer noch einen so strahlenden Blick seiner wasserklaren Augen? Bald nach Kriegsende war ihm der Ehrentitel eines Nationalkünstlers verliehen worden. Aber wie die Zeit fortschritt, wuchs in ihm, wie bei so vielen seiner Mitbürger, der Widerstand gegen die Machtanmaßung der Regimeträger, er geriet in Ungnade. Nach der Sowjetinvasion im Jahre 1968 erschienen seine Gedichte vornehmlich im Samisdat. Dann aber wurde ihm, wie ich schon erwähnte, 1984 der Nobelpreis verliehen. So konnte man nicht umhin, als er kurz darauf starb, ihn nun offiziell mit einer kurzen Aufbahrung im Rudolfinum, dem Haus der Künstler, zu ehren.
An jenem Tag war es bitter kalt, das Thermometer bewegte sich um die 20 Grad unter Null. Schon im
Weitere Kostenlose Bücher