Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen
Morgengrauenstellten sich die Menschen zu einem letzten Gruß an ihren Dichter auf dem frostigen Gehsteig vor dem Rudolfinum an. Als ich kurz vor neun Uhr früh hinkam, nahm die Menschenschlange schon die ganze Länge der Straße bis zur Fakultät der Rechtswissenschaften an der nächsten Moldaubrücke ein und wuchs und wuchs. Im Haus der Künstler häuften sich inzwischen pompöse Kränze mit kühlen offiziellen Abschiedsgrüßen auf den steifen schwarzgoldenen Schleifen. Seiferts Leser und Verehrer brachten in ihren klammgefrorenen Händen eine Rose, einen Blütenzweig. Manche legten ein blau-weiß-rotes Bändchen mit ein paar hingekritzelten Dankes- und Abschiedsworten an den Katafalk. Ungeachtet des einst verliehenen Titels, der später nicht mehr richtig zu ihm paßte, war Jaroslav Seifert ein nationaler Künstler seines Volkes. Wir haben seine Gedichte, seinen »Regenschirm vom Picadilly«, die »Pestsäule« oder seine Memoiren »Alle Schönheiten der Welt« in den unerfreulichen siebziger und achtziger Jahren nicht nur immer wieder gelesen, sondern mit beinahe jugendlichem Eifer geradezu verschlungen. Sind sie doch voll ungebrochenen Lebens, schlagen mit ihrer melodischen Schönheit stummgewordene Saiten im menschlichen Herzen an – sind einfach schön. Und Schönheit birgt Hoffnung.
Was haltet denn Ihr, meine geistigen Väter hoch über mir im Traumcafé, was haltet Ihr von unentwegtem Hoffen? Hat es geholfen, als Ihr noch erdgebunden wart und dabei beim Träumen etwa in den unüberschaubaren Korridoren und Winkeln eines Schlosses umherirrtet? Wirkte es in den schlimmsten Augenblicken der Verfolgung und bei den unfreiwilligen Wanderungen im Exil? Gibt es Hoffnung für Verlierer . . .?
»Jetzt hör mal«, bei dieser Frage angelangt, vermeine ich eine leise, leicht belegte Frauenstimme zu vernehmen und weiß auch gleich, wer da wohl zu mir spricht. »Jetzt paß mal auf«, fährt diese vom vielen Rauchen gedämpfte Stimme fort, »Hoffnung hat nur für Verlierer einen Sinn. Gewinner haben sie doch nicht nötig.«
Die das sagt hat ein Buch über die Hoffnung geschrieben, das den Titel »Das siebte Kreuz« trägt und davon erzählt, wie Hoffnung gepaart mit Willen auch in offenbar aussichtsloser Lage am Leben erhalten kann. Sie hatte damit ihre eigenen Erfahrungen, die schöne Anna Seghers, als sie mit ihren beiden Kindern während des letzten Weltkrieges den Exodus vor dem Vormarsch der deutschen Wehrmacht auf den Straßen Frankreichs überlebt hat oder später im mexikanischen Asylland, von einem Lastauto niedergerissen und schwer verletzt, wochenlang, fast könnte man sagen, um die Rückkehr ins Leben rang.
»Gilt das auch in ganz bösen Zeiten?« läßt sich eine andere dunkle Frauenstimme hören, und ich kann vorerst nicht erkennen, wer mir nun antwortet, »in den finsteren Zeiten, wird da auch gesungen werden? – Da wird auch gesungen werden, von den finsteren Zeiten.«
Jetzt weiß ich schon Bescheid. Diese Stimme gehört der Schauspielerin Helene Weigel, der ich, auch in Prag, wiederholt begegnet bin. Zum ersten Mal führte mich meine damalige Arbeit als Rundfunkredakteurin zu ihr. Ich wollte ein Gespräch mit der berühmten Darstellerin der Mutter Courage aufnehmen. Wir saßen in einem uns zur Verfügung gestellten Raum im Hotel Alcron, sie rezitierte einige Gedichte von Brecht, die Arbeit verlief glatt, und wir waren bald fertig. Da stellte sichheraus, daß das Tonband nicht ganz in Ordnung war, die Gedichte klangen verschwommen. Ich erschrak. Wird die Weigel bereit sein alles noch einmal . . .?
»Aber ja«, war zu meiner großen Erleichterung ihre Antwort, »mach kein so unglückliches Gesicht, so etwas passiert halt manchmal.«
Meine letzte Begegnung mit Helene Weigel in Prag war anderer Art. Wir verabredeten uns zu einer Teestunde. »Aber du mußt zu mir ins Hotel kommen«, sagte sie, »ich fühle mich nicht ganz wohl und muß am Abend spielen.«
Als ich zu ihr kam, lag sie im Bett, hatte schlimme Rücken- und Knieschmerzen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie sie noch an demselben Tag bei der Aufführung dabei sein konnte.
Am Abend saß ich nervös im Zuschauerraum des Ständetheaters. Auf dem Programm war »Coriolanus« von Bertolt Brecht. Der Auftritt der Weigel kam. Volumis, die Mutter des Fürsten, erschien in einem prächtigen Kostüm mit reichlich verziertem, mit goldenen Schnüren behangenem hohem Kopfschmuck. Sie schritt majestätisch und würdevoll aus, niemand hätte auch nur
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