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Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen

Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen

Titel: Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenka Reinerová
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Wenn man dann vor ihnen steht und hineinschaut, erblickt man nicht sich selbst, auch kein griesgrämiges, kein böses oder trauriges Gesicht, hier gibt es etwas ganz anderes: Man sieht die Sonne über Afrika aufgehen oder den Mond über Amerika, man sieht Weiden in Australien, Hochgebirge in Asien und Sonne, Mond und Sterne über unserem Europa. Auch Menschen kann man dort sehen und alle Tiere. Noah verkostet soeben zum ersten Mal einen Schluck Kaffee, und Neptun, sein zeitweiliger Gastwirt, sieht ihm dabei wohlwollend zu. Franz Kafka plant gemeinsam mit Jaroslav Hašek eine Radtour durch den Himalaja, die Seghers bittet Konfuzius um ein Gespräch unter vier Augen, mein Mann Theodor Balk versucht Doctor Faustus, der ja auch in die Medizin pfuschte und mitunter in Prag weilte, zu einer gemeinsamen Reportage über diese Stadt zu überreden, Egon Erwin Kisch schreibt mit Max Brod eine kritische Überlegung über das geistige Leben konfessionsloser Gespenster . . . Warum sollte Unmögliches hier nicht möglich sein?
    Da zieht vor meinem Prager Fenster eine Wolke über den Himmel. Ein Auto hupt, eine Straßenbahn kreischt, die Sirene einer Ambulanz zerreißt die Luft. Mein Traum wird unterbrochen.
    Unterbrochen, aber nicht abgebrochen. Weil, wie wir schon sagten, im Traumcafé alles möglich ist.

Der Frühvogel
    Seine Stimme, so zart und leise sie auch sein mag, ist unverkennbar. Es ist die erste, die allererste Stimme, die tröstlich unseren Schlaf durchdringt: Wach auf, Menschenkind, die Nacht ist bald vorbei, der neue Tag streicht schon mit unsicheren Lichtfingern durch das Gestrüpp der Dunkelheit. Schlaftrunken kommt von irgendwo die Vogelstimme. Vorerst nichts als ein weicher Laut. Und doch verblassen von diesem Augenblick an die Fratzen böser Träume, zerfließen sacht im Nichts. Und von neuem, schon etwas kräftiger, erhebt sich die unbekümmerte Vogelstimme.
    Du schlägst die Augen auf, und der Schrank im Zimmer wird allmählich wieder zum Schrank, der Tisch zum Tisch, die erwachenden Blumen rollen behutsam ihre Blätter auf und beginnen sacht zu duften. Vor dem Fenster schwingt sich der erste jubilierende Triller in die Lüfte empor. Der Frühvogel singt, und wir leben einen weiteren Tag.
    Diese kurzen Minuten zwischen Nochnichtsein und Schonwiedersein holen manchmal etwas aus unserem Gedächtnis hervor, das ohne die unschuldige morgendliche Stimme längst von jüngeren, noch nachschwingenden Geschehnissen überdeckt wäre. Erinnerungen werden erneut zu Erlebnissen.
    Die Nacht war sehr lang, dauerte eigentlich schon ein halbes Jahr. Ich zog meine Handtasche unter dem Kopfhervor und versuchte, auf verschränkten Armen weiterzudösen. Zusammenhanglos flatterten die merkwürdigsten Bilder hinter meinen geschlossenen Augenlidern vorbei. Ein grüner Hut. Eine zerzauste Wolke. Zinnoberrote Schuhe. Ein Ziegelstein, auf dem ein Schmetterling sitzt. Ein blaues Kleid mit Blütenzweigen, die auf und nieder wippen.
    Seit wann können Blütenzweige auf Kleidern wippen?
    Aber dieses blaue Kleid hat es irgendwo gegeben, ganz bestimmt war ich ihm einmal begegnet. Keinesfalls auf der Straße, das war ausgeschlossen bei dieser Kälte. Ich stopfte im Halbschlaf einen Mantelzipfel unter mein rechtes Bein, weil ich dort einen eisigen Luftzug verspürte.
    Als ich wieder ruhig lag und halbwegs warm, erschien mir das Bild einer geöffneten Tür, hinter der nichts als fahles Dämmerlicht stand. Uferlos, bodenlos, ein milchiger Tunnel ohne Ende. Dennoch bekam ich Herzklopfen. Eine geöffnete Tür, mein Gott! Drei Schritte würden genügen, und ich könnte vielleicht hinausgelangen.
    Hinaus? Wohin? Ach irgendwohin, zum Meer, auf die Berge. Vielleicht könnte ich untertauchen, verschwinden in dem Meer, das auf den Bergen liegt. Soll ich es versuchen? Wird sich mir etwas in den Weg stellen?
    Kaum hakte sich dieser Gedanke in mir fest, umgab mich auch schon eine Wolke von Veilchenduft, und ich wußte, daß gerade dieses süße Nichts in der geöffneten Tür stand und hindurchzukommen nicht möglich war.
    Da seufzte ich unwillkürlich. Sofort erstarrten die Blüten auf dem blauen Kleid, und Madame Folette, die harmloseste unter den Aufseherinnen, sagte mit ihremsilbrigen Stimmchen: »Wie geht es Ihnen heute, Madame? Draußen ist schrecklicher Frost, seien Sie froh, daß Sie hier drinnen sind. Ich habe übrigens daran gedacht, was Sie mir vor ein paar Tagen gesagt haben. Nur Ihretwegen habe ich heute mein bestes Kleid angezogen, damit Sie

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