Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen
wie so ein Glöckchen am Weihnachtsbaum.
Wahrscheinlich krank, diese Person, erwog der vierschrötige Riese an ihrer anderen Seite und schob sich angewidert ein bißchen weiter.
Der Zug ließ Städte und Dörfer hinter sich, eine Zeitlang begleitete ihn eine von Pflaumenbäumen gesäumte Landstraße, dann ein Fluß, auf einem hohen Schornstein flog ein Storchennest vorbei. Die Frau mit dem weißen Gesicht stand weiterhin regungslos am Fenster. Schaute sie überhaupt hinaus? Nahm sie den friedlichen Augustmorgen ringsum zur Kenntnis?
Sie nahm ihn mit allen Poren auf, sah jede Blume am Wegrand, roch den Duft der reifen Pflaumen, begrüßte mit den Augen die Spatzen, die in einer Pfütze planschten, und die Katze, die sich auf der Schwelle eines einsamen Hauses sonnte. Bei all dem klang in ihr noch die letzte Nacht nach, die sie, bei Freunden aufgenommen, durchwacht hatte, um die ungewohnt tröstliche Stille eines ruhigen Zimmers zu genießen, die schmeichelnde Weichheit des Bettes, das so lange entbehrte Wunder der Dunkelheit. Hinter dem Fenster, vor dem sie den Vorhangnicht zugezogen hatte, erloschen allmählich andere Fenster, alles versank in den schwarzblauen Fluten der Nacht, um in einigen Stunden ebenso unhörbar und unaufhaltsam wieder als neuer Tag zu erwachen. Rosa und hellgrün, ein neuer Morgen.
Eine durchwachte Nacht, in der sie, wie so fürchterlich oft vorher, noch einmal hartnäckig die Gedanken an Mann und Kind verdrängt hatte, die Vorstellung vom Wiedersehen mit ihnen. Es gibt viele schlimme Dinge, die man aushalten kann, aber manche guten, besonders wenn sie schon beinahe greifbar sind, kaum. Dem Schlag einer harten Hand kann man standhalten, aber der Vorstellung eines warmen Kinderhändchens?
Der Zug erreichte den Bahnhof einer größeren Stadt. Der junge Mann in der grünen Sportjacke sagte: »Wenn Sie gestatten, ich trage Ihnen den Koffer hinaus.« Es überraschte ihn kaum, daß er so leicht war, als ob überhaupt nichts darin wäre.
Die Frau bedankte sich und blieb allein auf dem Bahnsteig zurück, wartete ein wenig. Aber so sehr sie auch Ausschau hielt, niemand kam ihr entgegen. Wahrscheinlich war ihr Telegramm nicht rechtzeitig eingetroffen. Enttäuscht, zugleich aber auch fast ein wenig erleichtert – das Wiedersehen war noch ein bißchen hinausgeschoben – ergriff sie ihr Köfferchen und machte sich unsicher in die fremde Stadt auf.
Zuerst mußte sie nach der Straße fragen, die sie auf einem Zettel notiert hatte, konnte sich aber nicht entschließen, wen sie ansprechen sollte.
Drehen sich die Menschen nicht nach mir um? Wie lange bin ich nicht mehr einfach durch eine Straße gelaufen?
Ratlos blieb sie an einer Ecke stehen.
»Suchen Sie etwas? Kann ich Ihnen helfen?«
Ihr Herz begann wild zu klopfen, die Augen versanken noch tiefer in ihre dunklen Schatten, als sich der prüfende Blick eines älteren Verkehrspolizisten auf sie heftete. Die Uniform, gewiß, eine weiße Mütze und keine grüne, aber dennoch . . .
»Hier, diese Adresse«, stotterte sie und hielt ihm ihren Zettel hin.
»Mal sehen. Na, da müssen Sie erst dort nach rechts einbiegen, dann geradeaus bis zur Hauptstraße gehen, noch ein Stückchen nach rechts, dann überqueren Sie die Fahrbahn und sind am Ziel.«
»Danke.«
Der Mann legte grüßend zwei Finger ans Mützenschild und ging weiter. Alle Menschen schienen irgendwohin zu eilen.
Und wenn etwas passiert ist? Unsinn, das Telegramm ist einfach noch nicht angekommen.
Jetzt sind wohl weite Röcke in Mode. Kakao in Flaschen. Das ist etwas Neues. Was er kosten mag?
Und wenn wirklich etwas passiert ist? Mit der Kleinen. Es ist Sommer, beim Baden oder . . .
Sie mußte ihr Köfferchen für einen Augenblick auf den Gehsteig stellen. Das Herz wollte sich nicht beruhigen. Ein paar Kinder rannten vorbei und schrien: »Wir sind die Feuerwehr!« Petruschka war nicht dabei.
Das Haus Nr. 726 war drei Stockwerke hoch, die Hausbesorgerin wohnte zum Glück im Erdgeschoß. Eine nett aussehende Frau mit sorgfältig zurechtgemachter Frisur.
Sie fragte zögernd nach der Wohnung ihrer Familie.
»Und wer sind Sie?« wollte die Hausbesorgerin wissen, eher neugierig als streng.
»Die Frau von Doktor Starek.«
»Ja, wissen Sie denn nicht, daß der Herr Doktor im Krankenhaus arbeitet und um elf Uhr vormittags nicht zu Hause sein kann? Er hat übrigens nichts von Ihnen gesagt, als er hier kürzlich eingezogen ist.«
»Ich war im Sanatorium. Er wußte nicht, daß man mich schon
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