Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen
unterwegs?
Die beiden Männer vor mir im Wagen unterhielten sich. Worte glitten an mir vorbei, manche fing ich auf, andere summten bloß so vorüber. Steif und unbeweglich saß ich in meiner Ecke und beneidete ein wenig die Krähe, die allmählich aus meinem Blickfeld verschwand.
Warum fuhr ich eigentlich dorthin? Alles war doch ganz anders und meine verspätete Angst auf jeden Fall sinnlos.
Ich war niemals beim Begräbnis von jemandem aus der Familie gewesen. Andere hatten das für mich besorgt, gründlich und restlos. So restlos, daß gar nichts übriggeblieben ist, kein ausgetretener Pfad, nicht einmal eine Stelle, an der man stehenbleiben könnte.Als ich noch klein war, starb mein Großvater, ein stattlicher Mann mit einem eisgrauen Schnurrbart, der stets ein wenig nach Tabak roch, mit einer ziemlich großen Uhr in der linken und einer nicht sehr großen Bonbontüte in der rechten Westentasche. So pflegte er uns zu besuchen, so war er, wenn wir ihn besuchten, und so blieb er auch in meiner Erinnerung. Mit einemmal war er weg, man erklärte uns Kindern nicht viel, und etwas später ging ich öfter mit meiner Mutter auf den Friedhof. Das war gar nicht schrecklich. Sie nahm mich wohl nur im Frühjahr und Sommer dorthin mit, denn wenn ich daran denke, vermeine ich noch heute den Duft von voll erblühten Rosen zu spüren und von dem weißen Fliederbäumchen, das auf dem Grab meines Großvaters sproß und ein Verlobungsgeschenk meines Schwagers für meine ältere Schwester gewesen sein soll. Schweigend standen wir um den sorgfältig bepflanzten Hügel ein wenig herum, dann nickte mir meine Mutter zu, und ich wußte, daß ich nun ein Steinchen aufheben und auf den niedrigen Sockel des glatten, schwarzen Grabsteins legen sollte, auf dem nichts anderes eingemeißelt war als der Name und das Geburts- und Sterbedatum meines Großvaters. War das geschehen, schlenderten wir langsam wieder zurück. Sehr langsam, denn meine Mutter traf unterwegs immer wieder Bekannte, blieb stehen, plauderte ein bißchen, setzte sich mit dem einen oder anderen auf eine Bank im Schatten der alten Bäume, in denen es von Bienen surrte und wo mitunter ein Vogel auf den Weg hüpfte oder auf einen der blumenbedeckten Grabhügel. Auch die Namen auf den Steinen flößten mir kein Grauen ein. Lederer, Kopecký, Baum, Weltsch, Kafka, Pick. So hießen auch die lebenden Freunde meiner Mutter, selbst die Damen undHerren, denen sie hier begegnete. Nichts Schreckliches war je vor meinen Kinderaugen in dem sorgsam bestellten Garten mit den glänzenden schwarzen Steinen und den gesetzt und still zwischen ihnen herumhuschenden Menschen geschehen. Der Prager Friedhof war für mich eine wohl geheimnisvolle, aber friedliche Stätte der Ruhe.
Im Wagen wurde es allmählich warm. Ich knöpfte den Mantel auf und versuchte an etwas anderes zu denken. Aber das Bild, dem ich nachfuhr, das Bild, von dem ich bisher nur gehört hatte und das ich nun bald sehen sollte, ließ sich durch nichts verdrängen.
Wir fuhren durch ein Dorf. Kinder rannten in die Schule. Blaue Wollmützen und rote Wollmützen. Ein Fußball streifte den Kotflügel. Der Rücken vor mir straffte sich, der Mann am Steuer mußte nun sehr aufpassen. Erst am Dorfende drehte er sich zu mir um: »Ist dir schon ein bißchen wärmer?«
»Ja, danke.«
Wohin war die Krähe mit dem schweren Flügelschlag entkommen?
Schnurgerade führte die Straße durch einen gemischten Wald. Wenn das Auto herabhängende Zweige streifte, fielen Reifflöckchen leicht klirrend auf das Wagendach. Dann gab es wieder Flachland zu beiden Seiten, Buschwerk, Birken, vereinzelte Baumgruppen. So also sah es hier aus. Eine harmlose, freundliche Gegend.
»Jetzt müssen wir bald nach rechts abbiegen«, sagte der Mann am Steuer, und der neben ihm holte eine Karte hervor. »Noch etwa fünfhundert Meter«, meinte er nach einer Weile, »dann Richtung Lychen. Oranienburg-Sachsenhausen haben wir schon vorhin passiert.«
Haben wir? War das vor dem Dorf mit den vielen, ordentlich numerierten Scheunen oder danach? War das dort, wo rechter Hand eine lange Mauer stand, oder dort, wo plötzlich nichts war, nur Wind und dampfender Nebel, der selbst die Krähen verschluckte. Oranienburg-Sachsenhausen, weiß überhaupt noch jemand . . .
Im letzten Städtchen vor der Wegkreuzung gab es eine Gaststätte und ein Kino. Einen Bäckerladen mit süßen Stollen im Schaufenster, das Namensschild einer diplomierten Hebamme und ein Friseurgeschäft mit
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