Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen
weißen Schild unter der Aufnahme, gefährliche Zuträgerin, von den Gefangenen »der schwarze Engel des Todes« genannt.
Was bedeutete der Block Nr. 10 in Ravensbrück? Warum war die Mory gerade dort Blockälteste, warum wurde sie von ihren Mitgefangenen »der schwarze Engel des Todes« genannt?
Noch wußte ich es nicht. Auch war ich zu sehr mit dem Bild beschäftigt, das hier sein sollte und das ich sehen mußte.
Aber vorher mußte ich wohl noch vieles andere sehen. Da stand ich mit einemmal vor einem weißen Blatt Papier, das ein paar Ziffern enthielt. Was sollte ich mit ihnen anfangen? Sie waren zu vielstellig, zu nichtssagend in ihrer Unvorstellbarkeit.
Ein Mensch. Das ist ein jeder von uns, ein Mensch – das heißt leben. Zwei Menschen, das sind du und ich. Ich liebe dich, und du liebst mich, zwei Menschen sind schon unsagbar viel. Drei Menschen, das ist bereits ein Wunder: Vater und Mutter und ihr erstes Kind. Vier Menschen, das sind die Nachbarn von nebenan, die richtige Familie. Fünf Menschen, sechs Menschen, zehn. Zehn Frauen sitzen im Wartezimmer eines Entbindungsheims. Zehn Menschen, bald werden es zwanzig sein. Das alles ist wirklich, das alles gibt es.
Zweiundneunzigtausend Frauen sind in Ravensbrück ums Leben gekommen.
»Kannst du dir das vorstellen . . .« Ich faßte den Mann am Arm.
Er nahm die kalte Pfeife aus dem Mund, hob den Blick von dem weißen Blatt Papier und sagte leise: »Alle Einwohner einer mittelgroßen Stadt.«
Einer mittelgroßen Stadt. Aber keine Straßenbahn klingelt dort mehr, kein Auto fährt durch ihre Straßen. Aus den Schornsteinen der Fabriken quillt kein Rauch. In den Bäckereien werden die Brote hart, in den Parkanlagen welken die Blumen. Man erkennt nicht, wo die Schule ist, kein Laut dringt aus den großen Fenstern. Im Theater liegt der Taktstock unberührt auf dem Dirigentenpult, Ballettschuhe baumeln nutzlos in der Garderobe hinter den Kulissen. Niemand kauft das Brautkleid aus dem Schaufenster auf dem Hauptplatz, niemand flüstert auf der Uferböschung des Flusses zärtlichenUnsinn. Keiner zieht den Fisch hoch, der an der Angelrute zappelt. Nur der Wind liest in dem Buch, das unter der blütenschweren Linde liegt. Hier küßt nie ein Mund.
Aus zehn Menschen können zwanzig werden. Drei Menschen sind ein Wunder, zwei Menschen sind schon unsagbar viel, ein Mensch, das heißt leben.
Zweiundneunzigtausend Frauen wurden in Ravensbrück umgebracht, stand auf dem weißen Blatt Papier vor mir.
Hat das der Baum draußen am See gesehen? Haben die Schwäne davon gewußt?
»Du mußt dir nicht alles vorstellen können«, sagte der Mann und zog mich sanft fort.
Gefangene Frauen mußten in Ravensbrück Häftlingskluft für gefangene Männer weben. Sie mußten auch Pelzfäustlinge nähen, für die Ostfront. Zehntausend Stück. Staub und Haare in der Luft, Tuberkulose. Hunderttausend Stück. Manchmal starben hier hundert Frauen an einem Tag. Das Krematorium arbeitete ohne Unterbrechung. Die Asche wurde in den See gestreut. In den See, auf dem die Schwäne lautlos von einem Ufer zum anderen segeln und nur dann und wann ihren schlanken Hals beugen, um einen silbrig glänzenden Fisch zu schnappen. Er soll voll von fetten Fischen sein, der schöne Schwedtsee zwischen Fürstenberg und Ravensbrück.
Man muß sich nicht alles vorstellen können.
Die Hunde der SS in diesem Lager durften nur knappe Futterrationen bekommen, um scharf zu bleiben. So scharf, daß sie keinerlei Anhänglichkeit empfinden konnten, selbst für ihren Herrn nicht. Weich sein heißt schwach sein. Wer schwach ist, kann nicht siegen.
Etwas Ähnliches galt auch für die Aufseherinnen, für die SS weiblichen Geschlechts. Ihre Fotos hingen vor mir. Auch sie wurden, wie die Hunde, an diesem unwahrscheinlichen Ort kurzgehalten und jeden Monat von neuem instruiert, daß jeglicher menschliche Kontakt verboten war. Nicht nur mit den Häftlingen, jeglicher menschliche Kontakt schlechthin.
Ich aber habe die Frau gekannt, die hier die Blockälteste von Nr. 10 war. Ich habe sie in ihrem eleganten Pelzmantel gesehen, dessen hoher Kragen sich weich um ihren interessanten Kopf legte. Sie trug eine weiße Seidenbluse und eine gutgeschnittene, flaschengrüne Wolljacke über einem schottisch karierten Rock. Da war auch von einem Verlobten die Rede. Wie umarmt man eine Frau, die von anderen Frauen »der schwarze Engel des Todes« genannt wurde und in Ravensbrück Blockälteste von Nr. 10 war?
Vielleicht, wünschte ich mir
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