Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen
plötzlich, vielleicht ist es am besten, wenn ich das Bild überhaupt nicht finde. Vielleicht war alles ein Irrtum, eine Verwechslung, niemand hat es hier gesehen, warum auch.
Warum auch, um Himmels willen!
Ich wollte an ein Fenster treten, um hinauszuschauen in den silbergrauen Wintertag. Ich wollte die Bäume sehen und den See und die Schwäne, wie sie hinziehen. Aber es gab keine Fenster.
Über eine schmale Eisentreppe gelangten wir hinunter, ins Erdgeschoß. Bei der letzten Stufe stand der Alte im Lodenmantel, mit dem Knotenstock in der Hand und den schwarzen Schaftstiefeln an den Füßen.
»Sie betreten jetzt die eigentliche Gedenkstätte«, sagte er mit eintöniger Stimme. »Jedes Land hat hier für seine Heldinnen und Märtyrerinnen . . .«
Er soll still sein. Soll er doch bitte still sein!
Namen. Holland und das schmale, wissende Kindergesicht der Anne Frank. Belgien. Manche Namen klingen bekannt, manche sind es. Dänemark, Frankreich, Norwegen. Zögernd, immer langsamer betrat ich eine Zelle nach der anderen. In jeder hing an der Stirnwand eine Flagge in den Farben des betreffenden Landes, in jeder gab es Namen. In Stein eingemeißelt, zu langen Verzeichnissen zusammengestellt. Sie sahen hier völlig anders aus als sonst im Leben. Tot, als ob auch sie gestorben wären. Als ob sie nie mit Mühe und rührender Sorgfalt auf das Schildchen des ersten Schulheftes gemalt worden wären. Jahre später stand dann mancher von ihnen in feinen Buchstaben auf einem weißen Kärtchen: Mudr., Dr. Ph. Und wurde in der Handtasche mitgetragen. War es doch nach all den durchwachten Nächten endlich soweit. Die schlanke Mädchenhand zitterte ein wenig, da sie, noch etwas später, zum erstenmal mit einem neuen Namen unterschrieb. War das ein Spaß, auf einmal als Madame angesprochen zu werden, als Signora oder paní. An Wohnungstüren standen die Namen dieser Frauen und Mädchen, auf Briefumschlägen mit guten und bösen Nachrichten. Und auf dem Haftbefehl.
Nun waren sie alle tot. Die Namen, zu Verzeichnissen erstarrt, mit Blumen geehrt und von strengen Fahnen bewacht. Hörst du mich noch? Ne m’oubliepas! Nicht weinen, Marie.
Nicht weinen.
Ich schritt von Foto zu Foto und blickte in jedes Gesicht. Sind wir einander begegnet? Ich konnte sie doch gar nicht alle gekannt haben, die Jüngeren, Gleichaltrigen und die so viel Älteren. Die Wege der meisten vonuns haben sich nie berührt, wieso kam es, daß sie mir alle so vertraut erschienen, die Gesichter, die hier am Schwanensee niemals so ausgesehen haben, wie sie nun für immer von den Bildern lächeln. Mädchenhaft zart, mütterlich gütig, hübsch zurechtgemacht. Neben solchen Frauen sitzt man im Kino, läßt ihnen respektvoll oder galant den Vortritt beim Einsteigen. Sie verabreichen schmerzstillende Injektionen, tippen auf der Schreibmaschine, verkaufen Milch oder Strümpfe, bringen ihre Kinder zur Schule, kommen am Sonnabendnachmittag rechtzeitig zum Rendezvous, öffnen die Wohnungstür, wenn sie unseren Schritt auf der Treppe erkennen. Und sterben zu bald, wenn sie vor uns sterben.
Lange konnte ich diesen Rundgang nicht mehr aushalten. Wer einmal aus dem Blechnapf frißt. Wer einmal auf der Gefängnispritsche lag. Wer einmal eine metallbeschlagene Tür zwischen sich und der übrigen Welt wußte.
Und die Mory? Was war mit ihr geschehen, seit sie mit dem Todesurteil in die Petite Roquette, in das Pariser Gefängnis zur kleinen wilden Ranke zurückgebracht wurde? »Laßt mich raus!« hat sie damals geschrien. »Ich will fort von hier!« Wie gelähmt stand ich an der kalten Wand in meiner Zelle. Eine Frau war zum Tode verurteilt worden, eine Frau, die ich kannte, die ich gesehen hatte und deren Stimme ich in diesem Augenblick noch hörte. »Laßt mich raus! Ich will fort von hier!« So ist es also, dachte ich damals, und immer wieder, wie in einem Kreis gefangen: So ist es also!
Auf welchen Wegen war sie hierhergekommen, wie war aus dieser Marie »der schwarze Engel des Todes« geworden, aus Carmen Maria Mory die Blockälteste von Nr. 10?
Österreich stand über der nächsten Zellentür. Das ernste, verschlossene Gesicht einer Ordensschwester blickte mich an, Maria Benedicta Restituta. Zum Tode verurteilt, umgebracht. Neben, über und unter ihr fröhliche Mädchen im Dirndl, Studentinnen, Hausfrauen. Dazwischen eine Zeichnung. Von dieser Frau mit den starken Brillengläsern war wohl nicht einmal ein Foto übriggeblieben. Ich schaute nach dem Namen. Anna Peczenik.
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