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Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen

Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen

Titel: Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenka Reinerová
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Männer verrückt gemacht. Kann man sich schwer vorstellen, wenn man diese Zeichnung sieht, nicht?«
    Er nickte zerstreut. Dann sagte er still: »Nebenan ist die tschechoslowakische Abteilung«, legte mir für einen Augenblick die Hand auf die Schulter und ließ mich allein hinübergehen.
    Hier also war das Bild. Hier mußte es sein. Ich senkte plötzlich den Kopf und starrte auf den braunroten Fußboden. So konnte ich es natürlich nicht sehen. Ich mußte die Augen heben und auf die Wand schauen. Ich wußte doch schon, wo in den anderen Abteilungen die Bilder hingen.
    Ich konnte auch noch hinausgehen. Dann mußte ich nichts sehen.
    Wo war das Bild?
    Vor meinen Augen.
    Ein schlanker Hals, ein Mädchengesicht im Profil. Eine stumpfe Nase, kräftig geschwungene Augenbrauen. Schwermütige Augen, aber auf dem Bild lächeln sie. Über dem glatten dunklen Haar ein lässig im Nacken geknotetes Tüchlein. Meine kleine Schwester.
    ». . . hat im Lager an allen politischen Aktionen teilgenommen. 1942 nach Auschwitz deportiert, von wo sie nicht zurückgekommen ist.«
    1942, als sie nach Auschwitz deportiert wurde, von wo sie nicht zurückgekommen ist, war sie noch keine einundzwanzig Jahre alt. Da hatte sie aber schon fast zwei Jahre hinter sich, in denen sie bei jedem Schellen an der Wohnungstür zusammenfahren mußte und nicht mehr ruhig schlafen konnte. Was rings um sie geschah,war so ungeheuerlich, so menschenfeindlich, daß sie, um überhaupt atmen und unter diesen schlimmsten Umständen in sich frei bleiben zu können, einfach etwas tun mußte. Ein halbes Jahr lang wurde sie, als das Unglück über sie hereinbrach, im Gestapogefängnis auf dem Prager Karlsplatz geprügelt. In demselben alten Gebäude, in dem sich nun ein Standesamt befindet, wo Menschen getraut werden, die kaum jünger und zumeist älter sind, als sie es damals war. Ein Jahr verbrachte sie dann hier, im Frauenlager Ravensbrück. Wann ist sie jung gewesen? Hat ihr das Leben dazu überhaupt ein bißchen Zeit vergönnt? Warum war es so geizig zu meiner kleinen Schwester?
    Wie war der Tag, an dem sie dich hierhergebracht haben? Schien die Sonne am Himmel, hat es geregnet oder geschneit? Konntest du den See sehen, mit den alten Bäumen ringsum und den Schwänen, die still von Ufer zu Ufer ziehen? Hast du an unsere Mutter gedacht oder an deinen Liebsten, den sie noch vor dir geholt und gehenkt haben? Oder war schon alles tot und ausgebrannt in dir?
    Als du geboren wurdest, bin ich noch nicht zur Schule gegangen. Du bist in einem Wäschekorb gelegen, alles war weiß und rosa und frisch gebügelt, und man durfte es nicht anfassen und dich auch nicht, weil du auch noch ganz frisch warst. Trotzdem bin ich stundenlang bei dir gestanden und habe dir immer wieder behutsam die winzigen Fäuste aus dem Mund geholt, weil du nicht an ihnen lutschen solltest. Und habe an dir geschnuppert, was ich eigentlich auch nicht durfte, aber du hast so schön nach Milchflasche geduftet, nach Streupuder und Babyseife.
    Später habe ich im Park aufgepaßt, daß kein Junge dein Holzentchen zertritt, das du überall mit dir mitgeschleppt hast. Denn du warst meine kleine Schwester, und niemand durfte dir etwas zuleide tun.
    Dann sind wir zusammen in die Schule gegangen. Ich habe dich an der Hand geführt, und wenn wir über die Straße gingen und ein Auto kam, sagte ich: »Bleib stehen!«, und wenn es vorüber war: »Jetzt komm!« Manchmal hast du gemurrt: »Das weiß ich selbst!«, und da habe ich dich ein bißchen gepufft, weil ich streng sein mußte, denn ich hatte Angst um dich.
    Einige Jahre danach haben die Leute gelacht, wenn ich sagte: »Das ist Alice, meine kleine Schwester.« Ein hochgewachsenes Geschöpf war aus dir geworden, gut einen Kopf größer als ich. Dennoch bemutterte ich dich weiter, wann immer es ging. Als ich dich in einem Ferienlager von Arbeiterkindern anmeldete, fragte man dich bei der Einschreibung: »Du übernimmst wohl eine Gruppe, wie? Möchtest du die Jüngsten?« – »Danke, nein«, hast du damals geantwortet, »ich fahre, bitte, als Kind.«
    Aber eines Tages hörtest auch du auf, ein Kind zu sein. Aus deinen rundlichen Kinderhändchen wurden schmale Mädchenhände. Das winzige Zelluloidpüppchen, das du überall mit dir herumtrugst (erst das Holzentlein, dann das Püppchen, aber zum Schluß nichts, da durftest du gar nichts mehr bei dir tragen), verschwand aus deiner Manteltasche und machte verschiedenen Zetteln mit flüchtig hingekritzelten Notizen

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