Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen
Platz. Einmal war es der Titel eines Buches, ein andermal eine Telefonnummer, ein Datum, ein Vers, eine Adresse.
Wir waren beide verspielt. Das begann mit den kuriosen kleinen Dingen, die wir in unserem gemeinsamenZimmer zusammentrugen. Dazu gehörte eine Reihe von Ausdrücken, denen wir einen neuen, nur uns beiden zugänglichen Sinn gaben. Auch das komische Morgenritual, nach dem wir uns beim Aufstehen richteten, war ein Teil unserer Verspieltheit. Zuerst der linke Fuß, hieß es da, auf jeden Fall zuerst der linke. Dann eine kleine Pause, in der wir einander gegenseitig das Programm des Tages abhörten. Es folgte: Morgenrock, Vorhang hoch, Badezimmer. Wer zuerst am Frühstückstisch erschien, mußte zur Strafe (ungebührliche Hast!) alle Brote streichen, die andere brühte inzwischen den Tee auf und erforschte die Wetterlage. So und ähnlich ging es weiter, bis wir in größter Eile, denn meistens wurde es fast zu spät, aus der Wohnung schossen.
Prag hatten wir auf unsere besondere Weise aufgeteilt. Da gab es einen »Weg der absoluten Verzweiflung«, der nicht allzu lang sein durfte und beschritten wurde, wenn alles schiefging. Er führte von unserer Wohnung unter dem verrußten Eisenbahntunnel hindurch, durch die lärm- und raucherfüllte Hybernergasse, am häßlichen Masarykbahnhof vorbei, eintöniges Grau in Grau, bis zum Pulverturm. Dort war dann der Ausgangspunkt für den »Weg der größten Eile« sowie für den kurzen und den verlängerten »Trödelweg«. Wir hatten auch einen »Weg des absoluten Glücks«, dessen Betreten nur in Ausnahmefällen und nur in Begleitung einer gleichgestimmten Person gestattet war. Er führte durch die Nerudagasse auf der Kleinseite hinauf zum Hradschin und von dort durch die alten Schloß- und Adelsgärten wieder hinunter bis zum Blindenheim auf dem Klárov-Platz. Durch welche Gärten, das war der freien Wahl überlassen, weil ja Glück – zum Glück – keine Reglementierung verträgt.
Hast du dich hier wenigstens einmal daran erinnert, wieviel Spaß wir an unseren Spielen hatten, besonders wenn etwas »aufging«? Eine Wette, die wir mit uns selbst abgeschlossen hatten, eine Beschwörung, von der nur wir beide wußten.
Bloß hier, in Ravensbrück am Schwanensee, hat keine unserer geheimen Zauberformeln genutzt. Waren wir zu weit entfernt voneinander? Oder war es deshalb, weil Träumereien an diesem Ort keine Macht mehr hatten?
Als die Zeit kam, da in unserem Land alles drunter und drüber zu gehen begann, habe ich nicht mehr zu Hause gewohnt. Aber die letzten Wochen und Monate – wir wußten, daß es für lange die letzten waren, ahnten jedoch nicht, daß dieses »lange« niemals ein Ende nehmen sollte – bin ich wieder bei euch eingezogen. Wieder haben wir in unserem winzigen Zimmer gehaust. Eigentlich nur nachts, denn tagsüber rannte jede von uns ihrer Arbeit und ihren Sorgen nach. Mutter schlief im Nebenzimmer. Jeden Abend machte sie uns etwas zum Essen zurecht und wartete im Bett, bis eine von uns den Schlüssel in die Wohnungstür steckte. Da erschien sie sofort in unserem Zimmer, in einen viel zu weiten und schon viel zu schäbigen kaffeebraunen Morgenrock gehüllt, von dem wir uns aber alle drei nicht trennen mochten. Kurz darauf kam dann auch die zweite von uns, und wir aßen und schwatzten und lachten mitten in der Nacht und taten so, als ob wir nicht wüßten, daß das alles blad aufhören würde. Daß die Totschläger und mit ihnen der Krieg schon hinter unserer Wohnungstür standen. Aber wir haben es gewußt, meine Mutter, meine kleine Schwester und ich, gerade deshalb wollten wir in jenen ruhigen Nachtstunden noch soviel wie möglich beisammen sein.
War es richtig, daß ich dir Bücher zu lesen gegeben habe, die dich zum Nachdenken nötigten? Ich wollte nicht zusehen, erklärte ich dir einmal, wie Gewalt und rücksichtslose Besitzgier nacheinander Länder, Menschen, die Kunst und das ganze Leben vergewaltigten, ich wollte etwas dagegen tun. Ich, ein Mädchen aus Prag, wollte auch gegen den Krieg etwas tun. Du hast mir zugehört und hast mir dabei unverwandt ins Gesicht geblickt, als ob du auch den letzten, den zögerndsten Gedanken aus mir herausholen wolltest. Gesagt hast du damals nichts, aber weil du ernst warst und unverrückbar im einmal gefaßten Entschluß, hast du dann alles auf dich genommen. Alles, das getan werden mußte, und auch alles, was dann unvermeidbar war.
Ich wußte schon, daß es ein Spätsommertag des Jahres 1942 war, als der
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