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Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen

Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen

Titel: Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenka Reinerová
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hinfallen, man konnte sich ein Bein brechen, in die starren Füße Späne einrennen, kaum zugeheilte Risse wieder aufreißen. Nur gehen konnte man in ihnen so gut wie gar nicht.
    Wir waren rund achthundert Frauen in dem abseits gelegenen Gebirgslager in Mittelfrankreich. Als die deutschen Besatzer zur ersten Kontrolle erschienen, rot im Gesicht, das lederne Koppelzeug von Schweiß durchtränkt, die Zungen vom ungewohnt schweren Wein Frankreichs bedrängt, wurden wir auf dem kleinen Platz vor dem Steinhaus der Kommandantur zusammengerufen.
    »Jüdinnen links antreten, alle anderen rechts!«
    Die Französinnen, die Italienerinnen, die Spanierinnen und Polinnen blickten sich fragend um.
    »Les femmes juives à gauche, toutes les autres à droite!« übersetzte ich leise.
    Eine kalte Hand faßte nach meiner kalten Hand. Eine Frauenstimme, hell wie ein Vogelschrei an einem sonnigen Frühlingsmorgen, schwang sich hoch:
    »À gauche, mes filles, tout-le-monde à gauche! – Links antreten, Mädchen, alle nach links!«
    Wie ein Trommelwirbel, wie die Marseillaise, klappertendamals die Holzpantinen über die stein- und eisharten Erdschollen.
    Etwa ein Jahr später war ich in einem Wüstenlager am Rande der Sahara. Wie dickflüssiger Brei stand die Luft in den Wellblechbaracken. Bis hierher, fast bis hierher, fuhr die Eisenbahn. Weiter führte sie nicht. Trat man hinaus aus der brütenden Hitze der Baracke, durchglühte heißer Sand die durchschlissenen Schuhsohlen. Wir stopften und flickten sie mit Gräsern und Lappen, um nicht auf die grünlich-schillernden Fliegen zu treten, die in dichten Schwärmen von den offenen Latrinen und Abfallgruben kamen und in jedes nackte Stückchen Fleisch ihre Eier stachen. Keiner von den sechshundert europäischen Internierten in Oued Zem wußte, wie man sich gegen die Wüste, gegen ihren sengenden Atem und die winzigen Pest- und Seuchenträger schützen könnte. Und hätten wir es gewußt, wir hätten ohnehin nicht die Möglichkeit gehabt, zu tun, was ratsam war. Worin würden wir laufen, wenn der glühende Sand das letzte Paar Schuhwerk zerrieben hatte? Dann würde nichts anderes übrigbleiben, als sich die bloßen Füße zu verbrennen, eiternde Blasen zu bekommen, kaum zugeheilte Schrammen von neuem aufzureißen und auf giftige Skorpione zu treten.
    Eines Nachts vernahm ich Laute, wie ich sie nie zuvor gehört hatte. Langgezogenes, heiseres Winseln, so leer und trostlos, daß es mich von der Pritsche hochriß.
    »Halt!« Eine Taschenlampe leuchtete mir ins Gesicht, nagelte mich in der Barackentür fest. »Wo willst du hin«, fragte der Wachsoldat und wies mit dem kurzen Gewehrlauf auf meine bloßen Füße, »bist du verrückt?«
    Da kam wieder das Jaulen, endete diesmal in trockenem Gebell. Ich hielt mir die Ohren zu.
    »Schakale«, sagte der Soldat, nahm den Lichtkegel von meinem Gesicht und stampfte gleichmütig hinaus in die schwüle Finsternis.
    Der Sand knirschte unter meinen Füßen, brachte mich zurück nach Ravensbrück. Aber nirgends, dachte ich, weder in den französischen Bergen noch am Rande der Sahara, hatte man Hunde auf uns gehetzt. Hunde und Aufseherinnen, die kurzgehalten wurden, damit sie sich ja nicht an die Menschen gewöhnten. Das hatte es erst hier gegeben, am Ufer des Schwanensees und im Schatten der alten Bäume, die es fertigbringen, weiterhin jedes Frühjahr zu blühen, als ob gar nichts gewesen wäre. Zu blühen und zu duften wie damals.
    Hinter dieser grauen Mauer hing das Bild. Nun wußte ich es, nun hatte ich es selbst gesehen. Ein Lächeln. Lächelnde Augen. Ein lächelnder Mädchenmund. Das Bild meiner kleinen Schwester, die nie mehr älter wird.
    Die beiden Männer warteten bereits am Wagen. Wortlos öffnete der eine die Tür, wortlos nahmen wir alle drei Platz. Der Motor sprang an. Ich blickte aus dem Fenster zum See. Ein Mann mit Angelgerät hielt nach einem geeigneten Platz für Fischfang Ausschau. Das Schwanenpaar segelte dem gegenüberliegenden Ufer zu. Zwei Sowjetsoldaten warfen flache Steinchen in Wasser. Zwei sehr junge Soldaten.
    »Die wären wohl auch lieber bei sich zu Hause«, sagte der Mann am Steuer und gab Gas.
    Unter dem Wagen floß die Straße dahin, ein glattes, graues Band. Links glänzte das Wasser, rechts standen in kleinen Gärten mit vorsorglich verhüllten Obstbäumen und Blumenbeeten die Ein- und Zweifamilienhäuser. Über den Schwanensee, der auf der Landkarte alsSchwedtsee zu finden ist, und den die Havel mit Berlin verbindet,

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