Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen
große Transport von Ravensbrück nach Auschwitz durchgeführt wurde. Über den Wipfeln der Bäume am Seeufer sollen damals zwei Habichte gekreist sein, auf der Lagerstraße wirbelten Holzpantinen und nackte Füße grauen Staub auf.
»In Fünferreihen antreten!«
Alle wußten, was das bedeutete. Deshalb kamen die Frauen aus den Baracken gelaufen, ließen sich von den Aufseherinnen anschreien, schlagen, zurückdrängen. Und waren gleich wieder von neuem da.
Die angetretenen Frauen waren ruhig, schrecklich ruhig. Nur wenige weinten still vor sich hin.
Sie brachten sogar ein Lächeln fertig, die Gefangenen hüben und drüben. Sie nickten einander zu. Den Aufseherinnen gingen allmählich die Nerven durch. Kommandorufe überschnitten sich, Trillerpfeifen, Hundegebell.
Da summte in dem stillen Viereck ein merkwürdiger Laut auf. Ein Seufzer aus Hunderten Kehlen, ein letzter Abschiedsgruß? Die Frauen am Rande der Lagerstraße richteten sich unwillkürlich auf. Voll Zärtlichkeit blickten sie auf ihre Gefährtinnen hinter der Absperrungskette. Leise und doch so eindringlich, daß sie das hysterische Chaos des Wachpersonals übertönte, mehr hingehaucht als gesungen, stieg aus dem Viereck der zum Tode Verurteilten eine Melodie auf.
». . . erkämpft das Menschenrecht!«
Auch meine kleine Schwester hat damals zum letztenmal gesungen.
Jetzt stand ich hier vor diesem Bild. Ist Mutter vor dir gestorben oder du vor ihr? Ich weiß es nicht, denn als man euch aus Prag fortbrachte, saß ich in Paris in einem Gefängnis, das den Namen Kleine wilde Ranke trägt, und ein paar Zellen weiter saß eine Frau, die zum Tode verurteilt, aber nicht hingerichtet wurde und die dann hergekommen ist, an diesen lieblichen Schwanensee, und von euch »der schwarze Engel des Todes« genannt wurde. Hat sie deinen Namen auf das Verzeichnis gesetzt im Spätsommer des Jahres 1942? Hat sie dich von der Pritsche gezerrt, als es soweit war? War es etwa ihre Hand, die hinter dir den Riegel am Viehwagen zuschob?
Und ich habe gezittert, als sie geschrien hat: »Laßt mich raus! Ich will fort von hier!«
Bald zwanzig Jahre sind inzwischen nach dem Krieg vergangen. Eine lange Zeit. Lang genug, habe ich gedacht. Aber nun stand ich hier, und vor mir war das Bild, und ich konnte nicht fortschauen, und ich konnte nicht fortgehen und nichts zu Ende denken. So oft schonmußte ich tapfer sein und war es. Was blieb mir auch anderes übrig? Sooft man mir gesagt hat, ich müsse dies oder jenes begreifen. Immer, vielleicht zu oft, habe ich es versucht. Aber nun, da ich hier war und das Bild gefunden hatte, das Bild meiner kleinen Schwester, von dem ich so lange gewußt und das ich so lange nicht gekannt hatte, nun stand ich fassungslos und konnte gar nichts begreifen. Für manches im Leben sind zwanzig Jahre überhaupt keine Zeit. Zweiundneunzigtausend Frauen sind aus Ravensbrück nicht mehr zurückgekommen. Wie soll man sich so etwas vorstellen können?
Aber eine von den zweiundneunzigtausend Frauen, eine einzige von ihnen, hat ihre Kinderhand vertrauensvoll in meine geschoben, einer einzigen habe ich heimlich, damit Mutter nicht schimpfte, alle abgerissenen Knöpfe so gut es ging wieder angenäht. Nur eine hat mir eines Abends leise gesagt: »Du, ich glaube, ich habe mich verliebt.« Eine war meine kleine Schwester.
Im Korridor zwischen den Zellen leuchteten Neonröhren. Grauweißes Licht gerann in allen Ecken. Zwei junge Soldaten – graue Wintermäntel, knarrende, glänzend gewichste Stiefel – strebten, die Mützen in der Hand, dem Ausgang zu.
»Ich möchte schon gehen.«
Der Mann packte seine Pfeife in die Tasche und sah sich suchend nach dem anderen um. Durch eine schmale Seitentür trat ich ins Freie.
Ins Freie? Sand knirschte unter meinen Füßen auf dem Weg zwischen dem Strafbau und dem Krematorium. Mußten sie hier immer barfuß gehen, die Anni aus Österreich und meine kleine Schwester? Oder haben sie sich in Holzpantinen die Füße wund gescheuert?Rechts und links von der Barackentür mußten unsere Holzpantinen aufgereiht sein. Kam jemand von draußen herein, rieselte eine Handvoll Eiskristalle mit, setzte sich an den aufgereihten Holzwänden fest, weißer Flaum, vorgetäuschtes Wintermärchen. Comme c’est beau! Comme c’est froid!
Die Wege zwischen den Baracken im Frauenlager Rieucros waren schmal. Nicht ein Meter ebener Erde. Waren sie vereist von gefrorenem Regen oder festgestampftem Schnee, konnte man in den Holzpantinen rutschen und
Weitere Kostenlose Bücher