Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen
trinken und vielleicht auch ein echtes Bircher Müsli essen, das so gut für die Nerven sein soll. Dann würde ich zahlen, Handtasche und Handschuhe nehmen und zu Fuß – weil es gar nicht so weit wäre – zu der auf dem weißen Zettel vermerkten Adresse gehen.
Draußen würde die Sonne scheinen, und ich würde einem pausbäckigen Bübchen in einem Kinderwagen zulächeln. Unterwegs würde ich vor dem Chindlifresser stehenbleiben, dieser wilden und dabei komischen, buntbemalten Holzstatue mit einem halb verschluckten Kindchen im Maul und anderen, die aus den Hosen- und Jackentaschen hervorlugen. Und plötzlich würde ich erschrecken.Vielleicht ging vor Jahren ein schwarzbezopftes Mädchen auf seinem Schulweg täglich an dem unersättlichen Menschenfresser vorbei. Welche Gedanken mag diese Gruselfigur in ihm erweckt haben?
Aber dann würde ich tief Atem holen in der frischen Schweizer Luft und mein Gesicht dem leichten Wind und dem angenehm warmen Sonnenschein entgegenhalten. Die Rasenflächen wären von weißen, violetten und dottergelben Krokuskelchen gesprenkelt, und in den Baumkronen gäbe es übermütiges Vogelgezwitscher.
Ich würde ganz langsam gehen und mit jedem Schritt ruhiger werden. So ruhig, als ob ich in der Tat nur einen ganz gewöhnlichen Besuch machen wollte.
Vor dem Haus in der betreffenden Straße und mit der betreffenden Nummer würde ich stehenbleiben. Es wäre ein altes Patrizierhaus mit grüngestrichenen Blumenkästen voll roter Pelargonien in allen Fenstern, wie in den meisten Häusern dieser Stadt. Ich könnte mir ganz gut vorstellen, daß hier schon seit Generationen eine bekannte Arztfamilie lebte.
Ich würde in den Hausflur treten, aber nicht den Aufzug nehmen, denn ins zweite Stockwerk kann man zu Fuß hinaufsteigen. Im letzten Augenblick wäre es mir doch angenehm, noch ein wenig Zeit zu gewinnen.
Die dunkelbraune Wohnungstür, vor der ich stehenbliebe, wäre oben und an beiden Seiten mit massiven Holzornamenten verziert. Das Namensschild wäre aus Messing und spiegelblank geputzt. Ich würde schellen. Ein junges Mädchen, Tochter nennt man sie in den Schweizer Familien, käme öffnen. Ich würde fragen, ob Madame zugegen ist.
»Ich will gleich sehen«, würde das Mädchen sagen,mit einem Ton leichter Verwunderung in der Stimme, über den unangemeldeten, unvorhergesehenen Besuch. »Wen darf ich melden?«
Ich würde langsam die Handtasche öffnen, meine Karte hervorholen, sie, ohne die Handschuhe abzustreifen, dem Mädchen hinhalten und dazu bemerken: »Sagen Sie Madame bitte, daß wir einander in Paris begegnet sind. Vor sehr vielen Jahren, im Haus zur kleinen wilden Ranke.«
Aber da würde schon am Ende des dämmrigen Vorraums eine Tür aufgehen, und eine dunkle Stimme würde fragen: »Was gibt es, Clara? Ist jemand . . .«
»Bonjour, Madame«, würde ich sagen und auf die hohe Frauengestalt in der offenen Tür zugehen. »Entschuldigen Sie bitte den Überfall. Ich bin auf der Durchreise in Bern, und da habe ich mich erinnert, daß ich vor bald dreißig Jahren, genau gesagt, zu Kriegsbeginn, in Paris unter etwas ungewöhnlichen Umständen einer Madame Mory aus ebendieser Stadt begegnet bin. Nehmen Sie mir eine kleine Sentimentalität nicht übel, aber ich konnte einfach nicht der Versuchung widerstehen und . . .«
»Kommen Sie bitte weiter«, würde die Dame nach kaum merklichem Zögern sagen. »Danke, Clara, Sie können gehen.«
Das Zimmer, ein Salon mit gediegenen alten Möbeln, einer Bücherwand und einem Klavier in der Ecke, gäbe der Frau einen ganz besonderen, kontrastreichen Rahmen. Denn sie wäre, wie früher, sportlich gekleidet. Dunkelgrün der Rock und die Wolljacke, nur die verschnörkelte Goldbrosche am Kragen und der schwere Ring an einem Finger der linken Hand würden mit der Umgebung in Einklang stehen.
»Nehmen Sie bitte Platz«, würde sie sagen, und wir würden uns an einem kleinen, runden Tisch am Fenster niederlassen. Da würde ich sehen, daß ihr sorgfältig zurechtgemachtes Gesicht immer noch regelmäßige Züge aufweist, die Haare fast ganz dunkel geblieben sind und nur ein paar Fältchen um die harten Augen wachsende Müdigkeit verraten.
»Ich empfange sonst keine Besuche«, würde sie kühl bemerken. Zugleich würde jedoch etwas in ihren Augen aufsteigen. Neugierde? Die alte Abenteuerlust? »Zu Beginn des Krieges war ich übrigens tatsächlich in Paris.«
Nun müßte ich versuchen, das Eis zu brechen. Ohne die Handtasche wegzulegen, würde ich ein
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