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Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen

Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen

Titel: Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenka Reinerová
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er hob ihn auch jetzt und klopfte wieder leicht an seine Achselhöhle, »und alles ging wie am Schnürchen. Obwohl die armen Luder selbst schon kaum etwas hatten. Eine Frau gab mir einen Rock von ihrem gefallenen Mann, hat ihn ja auch nicht mehr gebraucht, zumindest damals noch nicht.« Und er schmunzelte und zwinkerte vielsagend der Blondine neben sich zu.
    »Hätte ihn aber preiswert verklopfen können«, warf der Mann mit der Hornbrille ein, wollte auch wieder etwas zu dem interessanten Gespräch beitragen.
    Mein Gegenüber streifte ihn bloß mit einem verächtlichen Blick. »Ich war doch von der SS«, bemerkte er nur.
    Bin ich feige, müde, oder ist es richtig, wenn ich mir das alles nur schweigend anhöre? Hätte es überhaupt einen Sinn, vor diesem Alten im Lodenmantel unterwegs mit Franz Schubert etwa Auschwitz zu erwähnen? Las ich doch gerade heute Morgen beim Frühstück in der netten Züricher Pension in der Zeitung, daß SS-Obersturmbannführer Walter Rauff, der für die Ermordung von neuntausendsiebenhundert Juden in mobilen Gaskammern verantwortlich gemacht wird, »in seinem Haus im vornehmen Stadtteil Las Condes der chilenischen Hauptstadt Santiago friedlich entschlummert ist«. Neuntausendsiebenhundert sind nur ein Bruchteil von sechs Millionen, nur ein Bruchteil. Zweiundneunzigtausend Frauen sind allein im Konzentrationslager Ravensbrück umgekommen. Was waren sie für Menschen, der SS-Obersturmbannführer Walter Rauff und seinesgleichen,die solches fertigbrachten und dann friedlich in eigenen Häusern und vornehmen Stadtteilen weiterlebten? Was kann man tun, wenn man durch einen verrückten Zufall mit einem Mal jemandem von dieser Sorte begegnet? Mein Gegenüber war gewiß nur ein kleiner Fisch – aber dennoch.
    »Am meisten hat mir eine Frau geholfen«, fuhr der kleine Fisch soeben in seinem Tatsachenbericht fort. »Das war schon hier, bei uns in Österreich. Wo wollen Sie denn hin, hat sie mich gefragt, als ich über unbestellte Felder und unwahrscheinlich zerstampfte Wiesen auf ein paar Felsen zusteuerte. Dort gehen Sie ja nicht hin, sagte sie, da oben ist Mauthausen, die dort sind ganz wild. War ja auch wahr. Und dann hat sie mich selbst auf Umwegen um dieses Mauthausen herumgeführt.«
    Die Blondine hatte inzwischen fast alle ihre Bonbons verzehrt, rutschte auf ihrem Sitz unruhig hin und her, traute sich jedoch anscheinend nicht, das Gespräch noch einmal zu unterbrechen, zumal auch sie den Abenteuern meines Gegenübers jetzt mit wachsendem Interesse lauschte.
    Mauthausen. Mauthausen mit der berüchtigten Höllentreppe im Steinbruch. Ich kannte ein paar Menschen, die sie überlebt haben. Sie sprechen nur selten darüber.
    Um mein Gegenüber nicht anblicken zu müssen, wandte ich mich dem Fenster zu, sah aber nichts, weil es draußen mittlerweile ziemlich dunkel geworden war.
    Wie wohl die Frau ausgesehen hat, die den flüchtenden SS-Mann vor der Wildheit der kaum befreiten, halb verhungerten Konzentrationslagerhäftlinge in Mauthausen bewahren wollte? Der Mann war damals jung, vielleicht war sie es auch. Was denkt sie heute, falls sienoch lebt? War sie verheiratet? Hatte sie Kinder, wiegt sie jetzt Enkelkinder auf ihrem Schoß? Und falls sie Töchter gebar, wie hat sie sie erzogen? Was mag die Mutter einer Ingeborg Schulte ihrem kleinen und später auch größeren Mädchen von ihren Jugenderlebnissen aus der Nazi- und Kriegszeit erzählt haben, daß sich die junge Frau veranlaßt sah, gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Hans-Günther Fröhlich ein Spiel mit dem Titel »Jude, ärgere dich nicht« auszuhecken. Sie zeichneten ein Spielfeld in Form eines Davidsterns, dessen Ecken die Vernichtungslager Treblinka, Buchenwald, Auschwitz, Mauthausen, Maidanek und Dachau darstellten. Von dort aus sollten die Figuren in die Gaskammern des Zielpunktes gewürfelt werden. Gewinner war, »wer zuerst seine sechs Millionen Juden-Figuren in der Gaskammer hat«; so war es in den Spielregeln der beiden jungen Leute zu lesen. Ingeborg Schulte mußte für ein paar Monate ins Gefängnis, weil sie dieses Spielchen eigenhändig gemalt hat und vervielfältigt zum Versand brachte. Ihr Freund, der die ganze Sache offenbar »nur« ausgedacht hat, kam ungeschoren davon.
    Kann man so etwas im Franz Schubert zwischen Zürich und Wien überhaupt erwähnen? Ich konnte es nicht.
    »Wissens, für einen Kriegsbeschädigten sehen Sie aber gottlob prima aus«, ließ sich die Blondine vernehmen, die eine Pause in dem Redefluß

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