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Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen

Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen

Titel: Das Traumcafé einer Pragerin - Erzaehlungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenka Reinerová
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Zwillinge sitzen, die Walters Kollege Doktor Mengele so dringend für seine Versuche benötigte und zu diesem Zweck in ganz Europa zusammentreiben ließ. Und da quoll schon der ganze Raum von großen und kleinen, hohen und niedrigen Stühlen über. Und immer weitere schoben sich heran. Jetzt drangen sie gar schon in das Bibliothekszimmer mit den in Leder gebundenen Gesamtausgaben der Klassiker ein. Soeben hat das eine Gruppe von zweiunddreißig Lehnsesseln geschafft, wie man sie bei Schreibtischen in Studierzimmern von Gelehrten findet. Hier waren es die Stühle polnischer Ärzte, Juristen und Ingenieure, die seit dem 5. Juli 1941 leer geblieben waren. Wußtest du davon, Walter, fragt Frau Rauff mit zitternder Stimme ihren Mann. Die Antwort bleibt aus.
    Und der Strom bricht nicht ab. Das ganze Haus istschon voll, sie stehen Wand zu Wand, die leeren Stühle, auch das Treppenhaus ist bereits dicht besetzt. Im Patio drängen sich die abgewetzten Bänkchen jüdischer Kinder, die sehr wohl wissen, daß sie nicht ins Haus dürfen. Der Gehsteig der vornehmen Straße läuft allmählich gleichfalls von den leeren Stühlen über, sie gleiten in die Fahrbahn, behindern den Verkehr und nehmen kein Ende, kein Ende. Wie in dem Märchen, in dem das Töpfchen mit dem süßen Brei überfließt. Nur daß hier . . . Wieviele Stühle müßten es da wohl sein?
    Im Lautsprecher über der Tür des Abteils begann es zu rauschen, und eine angenehme Frauenstimme meldete die nächste Station. Mein quälender Traum brach ab.
    Draußen war es inzwischen ganz dunkel geworden. Als sich der Zug von neuem in Bewegung setzte, flitzten erhellte Fenster vorüber, bunt beleuchtete Reklametafeln an hohen Gebäuden, das Lichtergewirr einer lebhaften Straßenkreuzung. Dann wieder nichts als samtene Finsternis.
    Als ich kurz vor Kriegsbeginn täglich in einen Vorort von Paris zu fahren pflegte, wo ich damals wohnte, hatte ich oft den Wunsch, mit meinem flüchtigen Blick aus dem Zugfenster etwas vom Leben der Menschen zu erhaschen, in deren Küchen und auch Schlafzimmer ich auf diese Weise ungebeten für eine Sekunde eintrat. Wie lebten die Männer und Frauen dort, was dachten sie, hatten sie Sorgen, waren sie froh oder traurig, ahnten sie, daß gerade jemand zu ihnen hereinblickte, der, obwohl aus seinem Land verjagt, im ganzen doch ebenso war wie sie?
    Als ich mich nun Wien näherte, bedrängte mich mit einem Mal der Gedanke, daß in der Welt so viele Menschenleben, die – von Grund auf verschieden – einander vielleicht nie verstehen werden. Das hat es freilich immer gegeben, sagte ich mir, warum beunruhigt es mich gerade jetzt so sehr? Weil die Welt an der Scheide des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts scheinbar kleiner geworden ist? Aber das könnte doch nur zur Folge haben, daß man einander näherkommt, näher von Mensch zu Mensch. Oder weil uns nicht gelungen ist, was wir in unserer Jugend erhofft hatten. Wie haben wir, als wir jung waren, gesungen? »Wir wollen mit Tyrannen raufen . . .« und haben es damit todernst gemeint, ohne zu erkennen, wo überall ein Tyrann an den Hebeln saß. Dann überrumpelte uns der Krieg, wirbelte alles durcheinander, und wer all das überlebt hat, wird schon wieder mit neuen Kriegen und neuem Chaos konfrontiert . . .
    Die Tür des Abteils ging auf. Meine Reisegefährten kamen in fröhlicher Stimmung aus dem Speisewagen zurück. Die Blondine dankte mir, daß ich das Gepäck bewacht hatte. Das Ehepaar in der Ecke begann seine Sachen zusammenzulegen, mein Gegenüber summte gut gelaunt etwas vor sich hin, hob den Arm – in dessen Achselhöhle er, wie wir schon wußten, tätowiert war – und holte aus dem Gepäcknetz eine Zigarre hervor. Er steckte sie jedoch nicht an, sondern knabberte nur an ihr.
    Langsam fuhr der Zug in eine erleuchtete Bahnhofshalle ein. Im Lautsprecher erklangen liebliche Weisen. Franz Schubert hatte seine Endstation erreicht.
    Ich holte mein Köfferchen herunter. Der einstige SS-Mann machte eine Bewegung, als wollte er mir helfen, tat es aber nicht. Ich ging auf die Tür des Abteils zu, wandte mich, ehe ich sie durchschritt, jedoch noch einmalum und sagte in Richtung Fensterecke: »Sie sind bei Kriegsende wohl kaum meiner Mutter und meinen Schwestern begegnet. Denen hat ja auch niemand einen Ausweg gezeigt, als sie in Auschwitz in die Gaskammer gejagt wurden.«
    Dann trat ich schnell aus der Tür, kletterte aus dem Wagen und holte auf dem Bahnsteig tief Atem, obwohl die Luft hier

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