Das Treffen in Telgte
Wirtsstube ein Notlager für Dach und Albert, die sich geweigert hatten, den Verschlag der Wirtin neben der Küche zu beziehen. Sie redete besonders auf Albert ein: Wie schwer es einer alleinstehenden Frau falle, sich in gegenwärtiger Zeit ehrbar zu halten. Wieviel Schönheit sie vormals besessen und welcher Schaden sie klüger gemacht habe… Endlich zog der Stoffel sie aus der Tür. Ein ganz besonderer Kitt zwang ihn und die Courage zum Paar.
Doch kaum waren die beiden gegangen, kam neue Störung über die Freunde. Im seitlichen offenen Fenster der Wirtsstube zeigte Zesen sein entsetztes Gesicht: Er komme vom Fluß. Der führe Leichen. Zuerst habe er nur zwei treiben sehen. Die hätten ihn, weil aneinandergebunden, an seinen Markhold und dessen Rosemunde gemahnt. Dann seien mehr, immer mehr Leichen flußab gekommen. Der Mond habe ihr treibendes Fleisch gezeigt. Er finde nicht Worte, so viel Tod zu benennen. Schlimme Zeichen stünden über dem Haus. Nie werde Frieden werden. Weil man die Sprache nicht rein halte. Weil die entstellten Wörter zu treibenden Leichen gedunsen seien. Er wolle niederschreiben, was er gesehen. Genau. Sofort. Und nie gehörten Klang finden.
Dach schloß das Fenster. Nun erst, nachdem sie zuerst erschreckt, dann belustigt den wirren Zesen angehört hatten, waren die beiden Freunde mit sich allein. Sie umarmten sich immer wieder, dabei einander den Rücken klopfend und breitmäulige Zärtlichkeiten brummelnd, die in kein dactylisches Versmaß gepaßt hätten. Zwar hatte Dach vorhin die Gesellschaft wegen allzu zotiger Geschichten ohne Nachttrunk in die Kammern geschickt, doch nun goß er seinem Albert und sich Krüge voll Braunbier ein. Mehrmals stießen sie an.
Als beide im Dunkeln lagen, erzählte der Domorganist, wie schwer es gewesen sei, Schütz hierher zu bewegen. Sein Mißtrauen den Dichtern und ihren viel zu vielen Wörtern gegenüber habe sich während der letzten Jahre ausgewachsen. Nachdem ihm Rist nichts geliefert hätte und ihm mit Laurembergs Libretti am dänischen Hof nur schlecht gedient worden sei, habe er sich auf eines der Schottelschen Singspiele eingelassen. Dessen Wortgestelze verdrieße ihn immer noch. Nicht die Verwandtschaft mit ihm, einzig die Hoffnung, daß Gryphius womöglich Dramatisches, geeignet als Vorlage für eine Oper, lesen werde, habe seinen weitberühmten Vetter zum Abzweig nach Telgte verleiten können. Hoffentlich finde der eine oder andere Text Gnade vor seiner Strenge.
Und Simon Dach war im Dunkeln besorgt, ob sich der literarische Haufe, so quergemischt und allzeit zum Streit gestimmt er sei, dennoch manierlich betragen werde bei so hohem Besuch: der wilde Greflinger, der schwierige Gerhardt, der, wie vorhin noch, so leicht gereizte und schier verrückte Zesen…
Bei solchen Sorgen überkam beide der Schlaf. Nur das Gebälk des Brückenhofes blieb wach. Oder geschah sonst noch was in der Nacht?
9
In seiner Kammer, die er mit seinem Widerpart Rist teilte, reihte Zesen noch lange Klangwörter, bis er über einem Vers, in dem dunsig dunsende Leichen dem Fleisch der Rosemunde und seinem Fleisch gleichen sollten, in Schlaf fiel.
Inzwischen war von Osnabrück über die Ems, am Brückenhof vorbei, ein Kurier nach Münster unterwegs; ein anderer ritt in umgekehrte Richtung: beide eilten mit Neuigkeiten, die sich, ans Ziel gebracht, veraltet lasen. Die Hofhunde schlugen an.
Dann stand der volle Mond, nachdem er sich lange Zeit über dem Fluß gefallen hatte, über dem Wirtshaus und seinen Gästen. Seinem Einfluß entzog sich niemand. Von ihm ging Wechsel aus.
Deshalb werden sich auf dem Dachboden die drei Paare im Stroh anders und jeweils gegenteilig gebettet haben; denn als sie im Morgengrauen erwachten, fand sich Greflinger, der zu Beginn der Strohlagernacht bei der zierlichen Magd gelegen hatte, nun bei der knochigen, die Marthe hieß. Die füllige Magd jedoch, die namens Elsabe anfangs dem stillen Scheffler beigelegen war, sah sich bei Birken liegen, während die zierliche Magd Marie, die zuerst Greflinger zugefallen war, nun mit Scheffler wie verkettet im Schlaf lag. Und wie sie einander erwachten und sich (vom Mond bewegt) fremd gepaart sahen, wollten sie so nicht liegen, wußten aber nicht mehr namentlich, mit wem sie sich anfangs ins Stroh geworfen hatten. Zwar meinte jeder und jede, bei neuem Wechsel jetzt wieder richtig zu liegen, aber der längst woanders volle Mond wirkte noch immer. Wie von jener untreuen Flora gerufen, die seinen
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