Das Treffen in Telgte
klopfen. Selbst dem unbewegten Schütz war die Dreistimmigkeit dieser Aufführung ein Lächeln wert. Über Schneuber sprach sich rum, was Lauremberg verkündete: Es habe sich die kichrige Marie beide Beine lang naßgepinkelt. Neues Gelächter. (Ich sah Scheffler erröten.) Einzig der fromme Gerhardt fand sein Urteil bestätigt: »Sagte ich doch. Die Gosse! Für die stinkichte Gosse!«
Da rief Simon Dach, nachdem er mit Blick und nachhelfender Bewegung die Mägde in die Küche geschickt hatte, Andreas Gryphius auf, aus seinem Trauerspiel »Leo Armenius« zu lesen. (Mit halblautem Nachsatz bat er Schütz, der Versammlung die »kindsche Posse« nachzusehen.)
Als sich Gryphius setzte, war sogleich Stille geboten. Vorerst starrte er gegen die Balkendecke. Gryf, wie ihn Hoffmannswaldau, sein mit Methode gegensätzlicher Jugendfreund nannte, sprach dann mit starker Stimme einleitend: »In dem vnser Vatterland sich nuhnmehr in seine eigene Aschen verscharret, vnd in einen Schauplatz der Eitelkeit verwandelt, bin ich geflissen vns die vergänglichkeit menschlicher sachen im gegenwertigen Trawerspiel vorzustellen…« Dann gab er bekannt, daß sein »Leo Armenius« dem anwesenden Kaufmann Wilhelm Schlegel, seinem gunstreichen Gönner gewidmet sein solle, weil er das vorliegende Stück auf Reisen mit Schlegel und einzig von jenem gefördert habe schreiben können. Darauf sagte er knapp die Handlung voraus, nannte Konstantinopel als Ort der Verschwörung des Feldhauptmanns Michael Balbus gegen den Kaiser Leo Armenius und versicherte dem versammelten Halbrund, daß der wütige Umsturz der alten Ordnung noch keine neue mache.
Jetzt erst las Gryphius, jedem Wort Gewicht gebend, doch offenbar mehrere Manuskriptblätter zu lang – etliche Zuhörer, nicht nur die jungen, auch Weckherlin und Lauremberg schliefen ein – als Exposition die verschwörende Rede des Balbus: »Das Blut, das jr für Thron vnd Cron gewagt…« mit den Einwürfen der Mitverschwörer: »Er leide was er that! der tag bricht freylich an…« bis zum Schwur des Crambe: »Gib her dein Schwerdt. Wir schweren Deß Fürsten grimme Macht in leichten staub zu kehren…«
Danach las er die dicht von Ausrufen – »Hilff himmel! was ist diß!« – durchwachsene Verhaftungsszene, die der gebundene Feldhauptmann höhnend beendet: »Ich wil diß (stünd’ ich gleich in liechtem Schwefel) melden: Daß diß der Tugendt lohn. Daß diß der danck der Helden…«
Als Zwischenspiel entwickelte der Vortragende den strenggebauten Dreisatz der Höflinge über den Segen und die Gefahr der menschlichen Zunge mit einleitendem Satz: »…Desß Menschen leben selbst; beruht auf seiner zungen…« – als Gegensatz: »…Desß Menschen Todt beruht auf jedes Menschen zungen…« – und mit einem Zusatz, der den chorischen Bau schließt: »…Dein Leben, Mensch, vnd todt hält stäts auf deiner Zungen…«
Nach der viel zu beredt hinverzögerten Gerichtsszene – »…Er wird in Kärcker bracht; Gebt unterdessen starck auf Thor vnd schlösser acht…« – und dem brünstigen Monolog des Kaisers Leo zum Urteil über den Verschwörer – »…Vnd daß kein schawspiel sey so schön im rund der Erden: Alß wen, was mit der glutt gespiel’t, muß Aschen werden…« – setzte Gryphius endlich zur Schlußszene wenn nicht des Stückes, so doch der Lesung an.
Das Zwiegespräch Kaiser Leo – Kaiserin Theodosia eignete sich zum Ausklang, zumal es der Kaiserin, die um Aufschub der Verbrennung des Balbus bis nach dem Heiligen Christfest bittet, mit Beredtsamkeit gelingt – »…Das Recht hat seinen gang, last gnad’ jhm nun begegnen…« – des Kaisers Entschluß: »Der Himmel wil das Haupt, das Laster abstrafft, segnen…« – doch noch ein wenig zu entschärfen: »Daß Er das strenge Recht nicht auf das fest außführ. Ich weiß, Er wegert nicht so wenig Gott vnd mir.«
Zwar hätte Gryphius, der noch immer bei Atem und die Große Diele füllender Stimmkraft war, gerne anschließend den Chor der Höflinge sprechen lassen: »O du wechsel aller dinge immerwehrend’ eitelkeit…«, aber Dach bat ihn (die Hand auf des Vortragenden Schulter), es nun genug sein zu lassen. Ein jeder könne sich nach dem Gehörten ein sattes Bild machen. Er, jedenfalls, sei vom Steinschlag der Wörter wie zugeschüttet.
Wieder lag Schweigen über der Versammlung. Die Fliegen. Das vor den offenen Fenstern gehäufte, in die Diele sickernde Licht. Czepko, der seitlich saß, sah einem Schmetterling zu. So viel Sommer
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