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Das Treffen in Telgte

Das Treffen in Telgte

Titel: Das Treffen in Telgte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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daß das fromme Kirchenlied, wie es von vielen, die anwesend seien, fleißig für den Gemeindegebrauch hergestellt werde, eine Sache sei, die zum literarischen Streit nicht tauge; eine andere Sache jedoch nenne er des Herrn Schütz hohe Kunst, die sich um das alltägliche Strophenlied nicht kümmern könne, weil sie auf vielstufigem Podest dem beliebigen Gebrauch entrückt stehe, doch gleichwohl, wenn zwar über die Gemeinde hinweg, einzig dem Lob Gottes erschalle. Außerdem wolle, was Herr Schütz kritisch zum atemlosen Sprachgebrauch der deutschen Poeten angemerkt habe, gründlich bedacht sein. Er jedenfalls danke für die Lektion.
    Weil Czepko und Hoffmannswaldau ihm zustimmten, Rist und abermals Gerhardt anderer Meinung sein wollten, Gryphius sich heftig zu entladen drohte und Buchner nach allzu langem Schweigen mit längerer Rede angereichert war, hätte sogleich wieder ein Disput beginnen können, zumal Dach unschlüssig zu sein schien und sich der neuerlich aufwallenden Redekunst wie ausgeliefert sah; da sprach wider Erwarten (und unaufgerufen) noch einmal Schütz.
    Sitzend entschuldigte er sich leise, Anlaß für so viele Mißverständnisse gewesen zu sein. Einzig sein übergroßes Verlangen nach abgeklärten und doch bewegenden Wortvorlagen trage Schuld daran. Deshalb müsse er noch einmal dartun, welcher Art Sprachwerk der Musik dienlich sein könne.
    Jetzt erst stand er auf und begann, gelehrt am Beispiel seiner Passionsmusik »Die sieben Worte am Kreuz« seinen musikalischen Umgang mit dem Wort zu erläutern. Welche Dehnung es zulassen, welcher Hebung es fähig sein müsse. Wie sich des Wortes Geste im Gesang zu weiten habe. Wie hochgestimmt sich das tiefe Trauerwort erheben dürfe. Schließlich sang er mit schöngebliebener Altmännerstimme die Maria und den Jünger betreffende Stelle: »Weib, Weib, siehe, siehe, das ist dein Sohn…« – »Johannes, Johannes, siehe, das ist deine Mutter…« Dann setzte er sich wieder und verkündete sitzend, die Versammlung abermals erschreckend, zuerst in lateinischer – »Ut sol inter planetas…« – dann in deutscher Fassung des Henrico Sagittario Devise: Wie die Sonne zwischen den Planeten, strahle die Musik inmitten der freien Künste.
    Entweder hatte Dach, noch erfreut (oder erschrocken) über den bewegenden Gesang, die neue Anmaßung nicht empfunden, oder er wollte sie überhört haben. Jedenfalls rief er übergangslos zu neuen Lesungen auf: zuerst Zesen, dann Harsdörffer und Logau, endlich Johann Rist. Die Aufgerufenen waren nacheinander willig. Einzig Rist gab zu bedenken, er könne nur aus erstem Entwurf stümpern. Jeder Lesung schloß sachliche, nun ganz beim Text bleibende und nicht mehr theoretisch auswuchernde Kritik an, bis auf die üblichen Ausflüchte ins Moralische. Gelegentlich verließ der eine, der andere die Versammlung, sei es, um sein Wasser abzuschlagen oder nach Telgte zu laufen, sei es, um in der Sonne, vorm Stall, mit den verbliebenen Musketieren zu würfeln. (Als tagsdrauf Weckherlin Klage führte, es sei ihm aus seiner Kammer Geld gestohlen worden, wurde Greflinger, weil ihn Schneuber beim Würfeln gesehen hatte, zuerst verdächtigt.)
    »Der Wohlsetzende«, wie er im folgenden Jahr als neues Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft genannt und bald danach geadelt werden sollte: Filip Zesen, dieser unruhige, verstiegene, seinen Neuerungen immer vorweg sich erklärende, von mehreren inwendigen, einander die Luft raubenden Feuern verzehrte, eigentlich junge Mann, sprach anfangs wirr, ohne die Tatsache – in der Ems treibende Leichen – beim Namen zu nennen, von einem »schrecklich Bild«, das, um der Liebe ihren Schluß zu gönnen, seinem Skript noch fehle. Dann sammelte er sich auf dem Schemel neben der Distel und las aus einem bereits in Holland gedruckten schäferlichen Liebesroman, in dem ein junger Deutscher namens Markhold vergeblich um eine venezianische Rosemund freit, weil er, lutherischer Konfession, die Katholische nur dann haben darf, wenn er verspricht, spätere Töchter pfäffisch erziehen zu lassen.
    Dieser Konflikt, der viel Praxis und noch mehr Zukunft hatte, interessierte die Versammlung, wenngleich das Buch den meisten bekannt war und Zesens neumodische Schreibweise – di statt die, si statt sie, desgleichen die Umlaute: ändlich, stärblich, härz, aber auch trühbnüs, dahrüm – schon etliche Streitschriften (Rists Polemik voran) zur Folge gehabt hatte.
    Zwar verteidigten Harsdörffer und Birken den Neuerer

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