Das Treffen
allein. Bis gestern.«
»Hat dir gefallen, was du gesehen hast? Bist du deshalb nachts noch mal hierhergeschlichen?«
»Nicht deswegen. Ich dachte, ihr wärt schon weg. Aber dann hab ich gesehen, dass ihr immer noch da seid. Ich wollte euch Angst machen. Hank kommt auch ab und zu hier vorbei. Hank is nicht ganz dicht. Manchmal bleibt er die ganze Nacht hier. Wahrscheinlich, weil er als Kind … ein paar Leute umgebracht hat … und mit den Frauen so Sachen gemacht hat … Dann geht er in die Lodge und … stellt sich alles noch mal genau vor. Was er immer erzählt … er sagt, es war das Beste, was er je gemacht hat – damals in der Lodge. Und dasselbe hat er mit euch vor. Also hab ich eure Sachen ins Wasser geworfen. Um euch Angst zu machen.«
»Wenn du solche Angst um uns gehabt hast«, fragte Abilene, »warum bist du nicht einfach zu uns gekommen und hast uns alles erzählt?«
»Weiß nich«, murmelte er verlegen.
»Es hat ihm eben Spaß gemacht«, sagte Finley.
»Hast du dich vor uns gefürchtet?«, fragte Vivian.
»Nö. Ich … mag euch.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Hör auf damit, Finley.«
»Also bitte. Der Junge ist ein Spanner. Er hat sich bestimmt einen runtergeholt, als er uns gesehen hat.«
»Kann schon sein«, sagte Abilene. »Aber ich glaube, er sagt die Wahrheit – zumindest, was seinen Bruder betrifft.«
»Bruder hin oder her, er ist schuld, dass Helen getötet wurde. Wenn er uns nicht nachspioniert und unsere Sachen in Ruhe gelassen hätte, hätten wir auch die Autoschlüssel nicht verloren und wären schon gestern Nacht aus diesem Scheißloch hier verschwunden. Dann wäre Helen noch am Leben. Wenn er nicht Vivs BH mitgehen lassen hätte, würde sein verdammter Bruder gar nicht wissen, dass wir hier sind.« Finley ging auf Jim los und stieß ihm die Handflächen gegen die Brust. Er taumelte zurück und landete auf seinem Hintern. Als er überrascht und mit Tränen in den Augen aufsah, packte Abilene Finley am Arm. Aber sie war zu langsam. Finleys Turnschuh krachte gegen Jims Unterkiefer. Der Junge wurde zurückgeschleudert und knallte mit dem Kopf auf den Boden.
»Himmel noch mal, Fin!«
Finley befreite sich aus Abilenes Griff, ließ Jim jedoch in Frieden.
Vivian eilte hinzu und kniete sich neben ihn. Seine Augen waren geschlossen. Einen Augenblick lang dachte Abilene, er wäre tot, bis ihr auffiel, dass sich seine Brust langsam hob und senkte. »Toll gemacht«, sagte Vivian und blickte zu Finley auf.
»Er hat's so gewollt.«
»Du hättest ihn umbringen können.«
»Wäre ihm nur recht geschehen.«
»Das hätte nicht sein müssen«, sagte Cora. »Aber egal. Fesselt ihn, bevor er zu sich kommt.«
»Warum?«, protestierte Abilene.
»Damit er nicht wegläuft.«
»Er wäre auch freiwillig mitgekommen.«
»Trotzdem – bei dem, was ich vorhabe, wäre er nur im Weg.«
Finley ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie kniete neben Jim nieder und zog an einem der Seile, die mit den Schlaufen seiner Jeans verknotet waren.
»Und was hast du vor?«, fragte Abilene.
»Wir halten ihn fest, bis wir von hier verschwunden sind.«
»Als Gefangenen?«
»Ich glaube, ›Geisel‹ ist der passendere Ausdruck«, sagte Finley. »Ein sehr guter Plan, Cora. Dass mir das nicht eingefallen ist. Niemand wird sich mit uns anlegen, solange wir den Jungen in unserer Gewalt haben. Hilf mir mal.«
Gemeinsam mit Vivian rollte Finley den Jungen auf den Bauch. Er stöhnte leise auf, wehrte sich jedoch nicht.
»Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist«, sagte Abilene.
»Auf jeden Fall«, sagte Finley. Sie band die Hände des Jungen mit dem Seil hinter seinem Rücken zusammen.
»Er ist unsere Versicherung«, sagte Cora.
»Sein Bruder könnte nach ihm suchen.«
»Darauf warten wir ja gerade«, sagte Finley. »Dann können wir ihm das Hirn aus dem Schädel pusten. Deswegen sind wir doch überhaupt noch hier. Und jetzt kann der kleine Jimbo den Köder spielen.«
»Und wenn die ganze Familie angreift?«, fragte Vivian.
»Sie werden uns nichts tun, solange wir Jim haben«, sagte Cora. »Wir werden damit drohen, ihn umzubringen. Dann lassen sie uns schon zufrieden.«
»Nicht, wenn wir den Bruder erschießen«, sagte Abilene. »Nicht, wenn Helens Geschichte über die Morde in der Lodge wahr ist.«
»Sie ist wahr«, sagte Vivian. »Du hast doch gehört, was Jim gesagt hat. Hank war dabei. Die beiden gehören zu der Familie, die für das Massaker verantwortlich ist. Wir sollten ihn einfach liegen
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