Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Turmzimmer

Das Turmzimmer

Titel: Das Turmzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonora Christina Skov
Vom Netzwerk:
ich dich erschreckt habe«, murmelte sie, ohne den Blick zu heben. Das grüne Licht der Tischlampe warf einen Kreis auf den Boden, und Nella bedeutete mir mit der Hand mich zu setzen. Die Schrift in dem Buch neigte sich in eine Richtung. Leider konnte ich über ihre Schulter nichts lesen.
    »Ist das Fräulein Lauritsens Schrift?«
    Erst jetzt fiel mir auf, dass Nellas Wangen nass von Tränen waren, und sie wischte sie fort. Schnell, als hätten sie nichts zu bedeuten.
    »Wo ich sie gefunden habe, sind noch mehr Tagebücher«, sagte sie. Im Schein der Leselampe warf ihre Nase einen langen Schatten auf ihre Wange. Sie war auf eine ganz andere Weise schön als tagsüber, wo sie alles tat, um genau das zu sein.
    »Und wo waren die Tagebücher?«, fragte ich, doch Nella schüttelte nur den Kopf.
    »Als ich vor fünf Jahren an diesem Ort war, habe ich hier, hier in dieser Kammer, die grauenvollsten Dinge erlebt«, sagte sie. »Du darfst aber nicht schlecht von mir denken, versprichst du mir das?«
    Sie wartete die Antwort nicht ab, atmete tief ein und fuhr fort.
    »Ich wäre damals beinahe zur Mörderin geworden, und ich habe mir geschworen, niemals mehr dieses Zimmer zu betreten. Vor allem nicht in der Nacht.«
    Ich hatte Lust, ihr die Wahrheit zu sagen: Hör zu, wenn ich alle Orte hätte meiden wollen, an denen ich im Laufe der Zeit beinahe zur Mörderin geworden wäre, hätte ich mein Zimmer in der Pension Godthåb nicht mehr verlassen können. Doch ich begnügte mich damit, zuzuhören und zu nicken.
    »Meine besten Kindheitserinnerungen sind mit dieser Kammer verknüpft«, fuhr sie fort und machte eine ausladende Handbewegung. »Und schließlich bin ich doch hier hineingegangen. Ich habe mich auf Laurits’ Bett gesetzt, wie ich das immer getan habe, als ich klein war und aufgewacht bin und nicht mehr einschlafen konnte. Ich konnte ihren Stift ganz deutlich auf dem Papier hören, er ist nahezu mit ihr davongelaufen. Es ist so merkwürdig, dass sie nicht mehr hier ist.«
    »Aber sie ist seit fünfzehn Jahren tot.«
    Ich ärgerte mich über meinen Kommentar, sobald ich ihn ausgesprochen hatte. Ich müsste doch besser als alle anderen wissen, dass man die Toten jahrelang vermissen konnte, mit jedem Jahr, das verging, auf eine andere Weise. Nellas Finger balancierte auf der Kante des Tagebuchs, das sie in der Hand hielt.
    »Ich habe die letzten beiden Stunden gelesen«, sagte sie, »mal hier, mal da, und ich hätte nie gedacht … ich hätte wirklich nie geglaubt …«
    Sie sah mich an, als wäre ich ein umstrittenes Kapitel in einem der Bücher, die sie überarbeitete.
    »Soweit ich sehe, hat Laurits alles aufgeschrieben, was sie von ihrer Einstellung 1884 bis zu ihrem Tod gesehen und getan hat, und eins kann ich dir sagen: Wir wissen nichts, und Fräulein Lauritsen weiß alles. Was sie schreibt, ist so verrückt, dass ich es nicht einmal schaffe, dir zu erzählen, was ich gelesen habe.«
    Damals glaubte ich, dass Nella das vor allem sagte, um mich neugierig zu machen, aber ich sollte bald eines Besseren belehrt werden. Nella nickte zu einem runden, schmutzigen Teppich auf dem Boden hin.
    »Die Bücher liegen da unten in einer großen Metallkiste unter einem der Bretter.«
    Sie hatte recht. Unter dem Teppich warteten ein paar lose Dielenbretter, die eher wie ein Deckel aussahen. In jedem war ein Loch von der Größe zweier Finger, und als ich sie hochhob, lagen die Bücher in ordentlichen Reihen mit Datenangaben auf den Rücken vor mir. 1/1-1898-1/1-1899, 1/1-1900-1/1-1901 …
    Ich holte die fünf obersten Hefte aus der Tiefe. Nellas Blick glitt über den Stapel. Sanft, wie mir auffiel.
    »Wir haben dem Zufall viel zu verdanken«, sagte sie. »Und den Mäusen.«
    Einen Moment spürte ich, wie mir etwas Weiches, Lebendiges über die Wange strich, gefolgt von einem Biss, und Nella nickte.
    »Ich habe ganz ruhig hier gesessen und an Laurits gedacht, als ich etwas fiepen hörte. Ich habe die Bretter angehoben, um nachzuschauen, und zuerst nur den Metallkasten gesehen. Dann habe ich den fiependen Laut wieder gehört. Er kam nicht aus dem Kasten, wie ich angenommen hatte. In dem Kasten waren nämlich nur diese Kladden. Erst als ich ihn etwas zur Seite geschoben hatte, habe ich die Mäuse dahinter entdeckt. Sie scheinen schon lange hier zu wohnen. Während ich hier saß und las, ist mir plötzlich eine über den Arm gelaufen.«
    »Und da hast du geschrien?«
    »Ja, tut mir leid.«
    Sie zog die Decke fester um sich. Sie roch

Weitere Kostenlose Bücher