Das Turmzimmer
erheblich furchteinflößender aus als vor drei Tagen, kam es mir vor, und das Vorzimmer wartete mit angehaltenem Atem, noch immer nicht auf längeren Besuch eingestellt, doch wesentlich weniger feindlich gesinnt. Ich stellte mich unter den Kronleuchter, und Nella trat zu mir. Als ich die Arme um sie legte, ging die Sonne hinter den schneeweißen Baumkronen draußen vor den Fenstern unter. Ein langer Windstoß ließ das Gut singen.
Eine Idee nimmt Formen an
Während des Abendessens unterbreitete mir Nella ihren Vorschlag. Wir saßen im Esszimmer, an dem einen Ende des länglichen Tischs. Um uns herum an den Wänden hingen gerahmte Vorfahren mit wachsamen Blicken, verewigt mit zierlichen Pinselstrichen. Auf dem Ehrenplatz am Ende erkannte ich Horace, und wenn man dem Gemälde vertrauen konnte, hatten die Jahre, die, seit das Foto im Selbstmordzimmer aufgenommen worden war, vergangen waren, die Konturen seines Gesichts noch verschärft. Unter den Wangenknochen zeigten sich jetzt Vertiefungen, die Ecken um das Kinn waren kantig geworden, die Locken abgeschnitten oder ganz verschwunden. Auf den ersten Blick sah er vielleicht noch stattlich aus in seiner reich dekorierten Uniform und mit dem Fuß auf einem toten Hirsch mit Geweih. Doch vor allem wirkte er sonderbar nackt und sich dieser Tatsache bewusst, als würde er unfreiwillig sein Inneres nach außen tragen. Ich war mir auch überhaupt nicht sicher, ob es dazu geeignet war, vorgezeigt zu werden, doch mein reales Wissen über ihn als Person war spärlich und ist es noch immer. Fräulein Lauritsen erwähnt ihn verblüffend selten in Anbetracht dessen, dass er ihre Herrschaft war.
»Ich habe über etwas nachgedacht«, sagte Nella und sah von mir zu Horace und zu den Kerzen, die ich in der winzigen Hoffnung angezündet hatte, sie könnten etwas Gemütlichkeit verbreiten.
»Ja?«
Mein Löffel tauchte in den dünnen Haferbrei ein. Liljenholm war plötzlich ganz still, als wartete jedes einzelne Zimmer auf die Fortsetzung.
»Ich denke, dass man hieraus ein Buch machen könnte«, fuhr Nella fort, und mein Löffel blieb auf halbem Weg zwischen dem geerbten Geschirr und meinem halb offenen Mund in der Luft stehen.
»Ein Buch?«
»Ja, wie Antonias Bücher, wenn man einmal davon absieht, dass ihre Geschichten erfunden sind, teilweise zumindest, und das hier die Wahrheit ist. Die Wahrheit über Liljenholm. Verstehst du, worauf ich hinaus will? Ohne all die schönen Fräulein und die unheimlichen Barone und die ritterlichen Söhne und all das.«
Sie wissen es sicher schon, lieber Leser, doch lassen Sie mich der Ordnung halber darauf hinweisen, dass Nella auf Antonias bereits erwähntes Debüt Lady Nellas geschlossene Augen anspielte und dass sich hinter »all das« unter anderem eine kinderlose Ehe, eine schlaue Amme, eine heimliche Verliebtheit und eine in dicke Wassermetaphorik verpackte Liebesszene verbarg. Wenn Sie irgendeins von Antonias späteren Büchern gelesen haben, werden Sie das Muster wiedererkennen, denn sie ist seitdem nicht davon abgewichen.
Nella sah mich abwartend an. »Du sollst nur die Wahrheit schreiben, das ist das Einzige, worum ich dich bitte«, sagte sie. Die Schnitzereien an der Tischkante schnitten in meinen Magen.
» Ich ?«
Nella nickte.
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»Ja. Doch zunächst müssen Laurits’ Tagebücher natürlich gekürzt und zu einer Geschichte zusammengeschrieben werden, die einen Sinn ergibt. Wenn das getan ist, bist du schon weit gekommen.«
Ich musste eine Zeit lang dagesessen und den Kopf geschüttelt haben, denn Nella sah mich eindringlich an. Ihre Augen hatten die gleiche dunkelgrüne Farbe wie die Wände um uns herum, nur leuchtender. Wie Tannen an einem Wintermorgen, musste ich denken.
»Du weißt doch selbst, wie schwer es ist, etwas mit sich herumzutragen, von dem man keine Ahnung hat, was es ist«, sagte sie. »Jetzt, wo Laurits’ Tagebücher mir endlich eine Antwort darauf gegeben haben, was mich so lange gequält hat, will ich einfach, dass es verschwindet. Aus mir heraus, verstehst du?«
Mein dummer Kopf nickte. Wenn ich eins verstand, war es der Traum, dass alles Belastende eines Tages leichter werden und in die Welt hinausfliegen und vielleicht sogar sein eigenes Leben leben würde. Nichts wäre schöner als das. Es sei denn, dass andere alles erfuhren und verstanden.
»Und warum schreibst du nicht selbst …?«
»Weil ich das nicht kann«, unterbrach mich Nella. »Ich habe natürlich darüber
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