Das Turmzimmer
schwach nach Lavendel. Die Gedanken stürmten auf mich ein. An den Traum, der vielleicht Wirklichkeit war, und an Fräulein Lauritsen, die sich nicht an die Benimmregeln von Liljenholm gehalten und die Tagebücher versteckt hatte, statt sie zu vernichten.
»Ich glaube, Laurits wollte, dass ich sie lese«, sagte Nella. »Ansonsten ist mir nicht klar, warum sie sie versteckt hat, dir etwa?«
In diesem Moment knallte eine Tür, sodass ich im wortwörtlichen Sinn zusammenzuckte. Nella griff nach meinen Händen und drückte sie leicht.
»Liljenholm heißt dich noch einmal herzlich willkommen«, sagte sie. Ihre Hand war sehr warm, und wie immer wünschte ich mir, der Augenblick möge länger andauern, als er es tat. Vielleicht ist es einfach mein Schicksal, mehr haben zu wollen als mir vergönnt ist. Nella ließ meine Hände jedenfalls los und wandte sich wieder dem Stapel mit den Tagebüchern zu.
»Sollen wir anfangen zu lesen?«
Sie begann mit dem Anfang und ich in der Mitte. Ich hob das Licht näher zu den Seiten hin, bis sich die ersten harten Striche zu Sätzen formten, die ich mir nicht einmal in meiner Fantasie hätte vorstellen können. Und meiner Fantasie fehlt es eigentlich an nichts, muss ich notwendigerweise hinzufügen. Wenn Sie es nicht bereits erraten haben.
Während der nächsten Stunden bekamen wir kaum Schlaf noch aßen wir genug, doch dafür lasen wir alle Geständnisse von Fräulein Lauritsen. Tauschten die Tagebücher aus und lasen weiter. Ein einziges Mal weinte Nella, den Kopf an meine Schulter gelehnt, und brachte nur mühsam halbe Sätze hervor: Wie konnte Fräulein Lauritsen nur hier mit uns leben und all das wissen? Wie konnte sie mir das antun? … Ich hätte nie geglaubt, dass Madame Rosencrantz auch nur in einem Punkt recht haben konnte, doch … Und dieses Verhalten, glaubst du, dass das erblich ist? Glaubst du auch, dass ich …?
Ein anderes Mal schlug sie eins der Tagebücher zu.
»Im Moment schaffe ich es einfach nicht, mehr über diese Turmzimmer zu lesen. Kannst du das eine Weile übernehmen?«, bat sie, und ich nahm ihr als Antwort Fräulein Lauritsens Tagebuch aus der Hand, las und las und wunderte mich sehr.
»Bist du auch auf DIE EPISODE gestoßen?«, fühlte ich mich genötigt zu fragen. Erst sah Nella mich nachdenklich an, dann nickte sie. Laurits schrieb oft davon, immer in Großbuchstaben, als wäre das von Bedeutung, doch warum schrieb sie dann nie, um was es dabei eigentlich ging? Nella zuckte mit den Schultern, als ich sie danach fragte.
»Vielleicht hat selbst Laurits ihre Geheimnisse. Das haben wir wohl alle«, meinte sie, und ehrlich gesagt kann ich mich nicht erinnern, wann eine Antwort mich das letzte Mal mehr beunruhigt hat.
Drei Tage später hatten wir alle Tagebücher gelesen, ohne einen einzigen Buchstaben übersprungen zu haben. Oder vielleicht sollte ich hier besser für mich sprechen. Es war meiner Aufmerksamkeit schließlich nicht entgangen, dass Nella auch einige Stunden leer in die Luft gestarrt und das eine oder andere in dem kleinen Notizbuch notiert hatte, das sie immer bei sich trug. Jetzt streckte sie sich vorsichtig in Fräulein Lauritsens altem Beichtstuhl, ihr Rücken knackte. Zumindest freute es mich, dass ich nicht die Einzige war, die sich mit einem klappernden Skelett herumschlagen musste.
»Ich habe ein Gefühl, als hätte ich seit Tagen hohes Fieber«, sagte sie, und ich nickte, obwohl ich mich eher so abgenutzt fühlte wie das Laken unter mir, und wahrscheinlich war ich auch so zerknittert. Ich hatte jedoch nicht die Nerven, einen Spiegel zu konsultieren und zum Gott weiß wievielten Mal festzustellen, dass ich wie eine Leiche auf zwei Beinen aussah. Deshalb stand ich auf und schlug vor, dass wir uns etwas zu essen machen sollten, was äußerst vernünftig war.
Keine von uns erwähnte die Tagebücher, die wie ein geschändeter Grabhügel in Stapeln über den Boden verteilt lagen. Wir stiegen einfach darüber hinweg und schlossen die Tür gut hinter uns zu. Die Treppenstufen ächzten laut, ungeachtet, wie vorsichtig wir auftraten. Ich selbst übersprang die Hälfte, doch die restlichen ächzten nur noch lauter, und der Duft von Antonias orientalischem Parfüm wurde stärker ( du musst aufhören, den Duft als »orientalisch« zu beschreiben , hat Nella mit ihrem Gekritzel an den Rand geschrieben. Soweit ich weiß, ist nichts Orientalisches an weißen Lilien! ). In der Halle hielten Antonias Mäntel Wache wie stumme Soldaten. Sie sahen
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