Das Turmzimmer
Wir hatten eine Woche gebraucht, um Großputz zu machen, überall aufzuräumen und eine endlose Reihe von Schränken und Schubladen nach potentiell wertvollen oder auch nur aufschlussreichen Dingen zu durchforsten. Jedoch ohne nennenswerten Erfolg. Ganz offensichtlich war Antonia weitaus eher bereit gewesen, alles zu vernichten, was auch nur ansatzweise den Hausfrieden hätte stören können, als ihre Verwalterin es gewesen war.
»Ich habe gerade angefangen zu schreiben«, sagte ich, nicht um zu nörgeln, sondern weil es mich, ohne zu übertreiben, einen wahren Kraftakt gekostet hatte. Setz dich hin, und die Inspiration kommt von oben . Ha! Das Einzige, das von oben kam, war Schnee, Schnee und noch mehr Schnee, verwässert von Stürmen, und dann waren da all die Geschichten, die Nella mir in den Stunden nach Mitternacht erzählt hatte. Manche so ungeheuerlich, dass ich kaum wusste, was ich mit ihnen anfangen sollte. Doch jetzt saß ich endlich hier und schrieb von unserer Ankunft auf Liljenholm, während ich mich nahezu in sie zurückgeschleudert fühlte, sodass ich am liebsten nicht gestört werden wollte. Nella zeigte mir ihr charmantestes Lächeln, als ich ihr das sagte.
»Ja, aber genau darüber will ich doch mit dir reden«, sagte sie, und meine Hände froren auf den Tasten von Antonias schwarzer Remington fest.
»Wie meinst du das?«
Ich hatte eine dunkle Ahnung, was sie meinte. Außerdem kostete es mich große Anstrengungen, die richtigen Details für die Beschreibung der Ankunft auszuwählen, sodass meine Laune schon bessere Tage gesehen hatte. (Ich habe die Szene in den vergangenen Wochen um die zehn Mal umgeschrieben, und man sollte wohl anerkennen, dass ich mir meine Frustration bis jetzt nicht habe anmerken lassen.)
»Hör zu«, sagte Nella, »du weißt doch, dass ich zurück nach Kopenhagen muss. Um den Umzug in die Wege zu leiten, meine Wohnung zu kündigen und den Verlag umzugsbereit zu machen. Du kannst natürlich gerne mitkommen, aber …«
Wir kannten die Fortsetzung beide: Ich hatte nur das Geld für eine einfache Fahrkarte, und Nella bekam mit knapper Not noch das Geld für eine Rückfahrkarte zusammen. Also hatte ich die Wahl, auf Liljenholm oder in Kopenhagen zu bleiben. Nella legte den Kopf schief. Sie sollte mich öfter so ansehen.
»Soll ich in der Pension Godthåb vorbeigehen und ein paar von deinen Sachen holen?«, fragte sie, und beinahe hätte ich laut gelacht.
»Was hast du dir denn vorgestellt, was du holen willst?«
Nella wusste genauso gut wie ich, dass alles, was ich besaß, auf der Durchreise war. Als ich in die Pension gezogen bin, habe ich das abgelegte Leben meines Vormieters übernommen, seine Möbel, seine alte Bettdecke, ein paar in Wachs eingekapselte Kerzenleuchter, und jetzt war die Zeit gekommen, alles weiterzugeben. Mir tat der, der das übernehmen sollte, leid.
»Soll ich denn nicht eine Nachricht an …?«
»An Lillemor? Nein, danke. Aber du kannst gerne …«
»Ja, ja, ich werde mit Ambrosius reden.«
Nella klang müde. Aus unergründlichen Gründen hat sie meinen besten und einzigen Freund nie gemocht, und warum sie Lillemor so gerne treffen wollte, war mir nicht klar. Doch andererseits war mir ebenso unklar, warum ich unter keinen Umständen wollte, dass Nella und Lillemor sich trafen. Ich weiß nicht einmal selbst, warum mir das so gegen den Strich ging.
Nella ließ sich auf dem alten geblümten Ohrensessel vor Antonias Bücherregal nieder und saß somit vor dem absolut Einzigen auf Liljenholm, das eine fortwährende Anziehung auf mich ausübte, nämlich Antonias Lebenswerk, ihre 32 Romane. Sie nahmen das gesamte Regal ein, in sämtlichen Ausgaben und Auflagen und in allen möglichen Sprachen. Ich stand täglich davor. Manchmal zog ich einfach einen vergoldeten Buchrücken nach dem anderen heraus, bewunderte den Einband und die Papierqualität, roch an dem Inhalt. Andere Male las ich einzelne Passagen oder ganze Abschnitte, während ich auszublenden versuchte, dass sie in diesem Zimmer geschrieben worden waren. Man kann nicht in ein Buch flüchten, wenn es genau an dem Ort spielt, von dem man flüchten will. Ich kann das jedenfalls nicht. Der Blumenbezug verlieh Nellas Haut eine wärmere Glut.
»Dann weißt du inzwischen, womit du anfangen willst, und bist mit den Vorbereitungen fertig?«, fragte sie. Das wusste ich nicht, und deshalb ließ ich meiner Neugierde freien Lauf.
»Mit deinen Erlebnissen an Antonias Sterbebett, hatte ich gedacht. Was
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