Das Turmzimmer
ihn so stramm gebunden, dass sie sich beinahe in der Mitte eingequetscht hätte, und es hatte sich gut angefühlt. Der Gürtel, der in ihr Fleisch schnitt, während ihre Beine darum kämpften, einen Fuß vor den anderen zu setzen, die ganze Lindenallee hinunter. Liljenholm war hinter ihr immer kleiner geworden. Das letzte Mal, als sie sich umgedreht hatte, hatte sie gemeint, hinter dem Gitterfenster hoch oben in einem der Türme einen Schatten zu sehen. Als blinzelte Liljenholm ihr zu, hatte sie gedacht, und sie hatte nicht gewusst, warum sie die Hand gehoben hatte, um zu winken. Es gab wohl keinen Grund, einem Haus zu winken, das ihr die letzten achtzehn Jahre das Leben nicht gerade leicht gemacht hatte. Andererseits war die Erleichterung fortzugehen so groß, dass sie Lust hatte, zu winken und zu winken und schneller zu laufen und zu winken, bis sie den Bahnhof und den Zug nach Kopenhagen sehen konnte.
Doch heute rollte der Zug wieder in den Bahnhof ein, dem sie vor zehn Jahren zum Abschied gewunken hatte. Es erging ihr ähnlich wie den Bremsen, die hoch und schrill kreischten. Alles in ihr kam zum Stehen. Doch sie nahm sich zusammen, stieg aus dem Zug, ging über den Bahnsteig und nickte dem Schaffner zu, der sie wiedererkannte, es jedoch unterließ zu grüßen. Die Liljenholmer waren offensichtlich nach Madame Rosencrantz’ Biografie nicht gerade beliebter geworden. Nebenbei bemerkt hatte sie sogar zu mehreren Verhaftungen geführt, wenn man den Zeitungen Glauben schenken durfte, weil ein paar Verrückte aus der Gegend begonnen hatten, nach den berühmt-berüchtigten Leichen von Antonias anonymem Mann und der kleinen Bella im Park zu suchen. Im Schutz der Nacht hatten sie nach ihnen gegraben, doch offenbar nicht Die Königin der Gespenster genau gelesen. Denn dann hätten sie gewusst, dass Antonia zu dieser Nachtstunde in ihrem Arbeitszimmer saß und schrieb. Ein Telefon hatte sie natürlich nicht, sodass die Anzeigen erst später kamen, doch sie besaß ihren Stock, und der konnte ebenso hart zuschlagen wie ihre Flüche und Verwünschungen.
Nella versuchte, sich die Situation vorzustellen, während sie die letzten Kilometer zu Fuß zurücklegte. Das ging beunruhigend gut. Antonia konnte jedem einen riesigen Schrecken einjagen. Sie musste dazu nicht einmal anwesend sein. Nella bemühte sich, den Schweiß zu ignorieren, der die Kleider am Körper kleben ließ, obwohl es kaum mehr als sieben oder acht Grad waren. Sie war einzig und allein hier, weil Antonia nach ihr geschickt hatte. Das sagte sie sich immer wieder, doch mit jedem Schritt kam es ihr unwahrscheinlicher vor. Sowohl, dass Antonia nach ihr geschickt haben sollte als auch dass sie tatsächlich deswegen hier war.
Wie ihr mit einem Mal klar wurde, war sie hier, weil die Fragen ihr ohnehin keine Ruhe ließen. All die Jahre hindurch, an jedem einzelnen Tag hatte sie sich gefragt, warum sie sich an nichts erinnern konnte, wer versucht hatte, sie umzubringen, und wie sie, Nella, auf irgendeine Weise Simons und Lilys Tod verschuldet haben konnte. Hatte Simon Lily doch geliebt, obwohl ihre Mutter das abstritt? Und hatte Antonia in Wirklichkeit Simon und Lily getötet? Lilys Grab kannte Nella nur zu gut. Antonia war einmal im Monat immer auf den Friedhof gegangen, um das Unkraut zwischen den Kieselsteinen zu rupfen, die den großen weißen Stein umgaben. Lily von Liljenholm (1884–1914) ruhe in Frieden stand darauf. Simons Leiche hatte man nie gefunden.
Nellas Blick wanderte nach rechts. Zum See hin, der zwischen den Hügeln auf der Lauer lag. Die Landschaft war in Nebel gehüllt, der sich nie ganz zu lichten schien, nicht einmal bei strahlendem Sonnenschein. Sie dachte an ihren Vater. Er musste mit seinen Angelsachen noch immer dort unten auf dem Grund des Sees ruhen. Unzählige Male war sie in ihrer Kindheit am Ufer des Sees entlangspaziert. Jedes Mal hatte sie gehofft, nur ein ganz klein wenig, dass einer seiner Angelhaken an Land getrieben worden wäre. Oder ein Stück seiner Kleidung. Was auch immer, wenn es nur der Ungewissheit ein Ende bereiten würde. Als sie nach Kopenhagen gezogen war, hatte sie versucht, alle Gefühle abzuwehren, um diese Ungewissheit nicht mehr zu spüren. Doch in Wirklichkeit war sie ständig präsent gewesen, ohne dass sie es bemerkt hatte, dachte sie jetzt. Sie konnte Antonias höhnisches Lachen beinahe hören. Musiklehrerin, sagst du? Nun ja, ich hatte etwas mehr von dir erwartet, aber ich bin natürlich auch früher schon
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