Das Turmzimmer
enttäuscht worden. Ist das wirklich alles, was aus dir geworden ist, Nella?
Jetzt tauchten die von Grünspan überzogenen Türme von Liljenholm hinter einer ausgemergelten Hügelspitze auf. Ja, das bin ich geworden, Mutter. Du hast doch immer gewusst, dass ich untalentiert bin, nicht wahr? Die Türme sahen höher und schmäler aus, als Nella sie in Erinnerung hatte, und irgendetwas war mit dem Dach. Sie kniff die Augen zusammen, um durch den Nebel besser sehen zu können. Das Dach war zweifelsfrei nicht überall grün von Moos gewesen, als sie das letzte Mal hier gewesen war. Wo einmal nackte, dunkelrote Mauern gewesen waren, rankten sich jetzt halbwegs verblühte Gewächse. Ein paar drohende, graublaue Wolken segelten über den Himmel, und im nächsten Moment spürte sie die ersten Tropfen auf der Stirn. Das Letzte, woran sie dachte, bevor sie den Kiesweg hinunterzulaufen begann, waren die Rosen. Zehn Sekunden später gingen Himmel und Erde ineinander über.
Ein Wiedersehen mit den Toten
Antonia pflegte in regelmäßigen Abständen die Schlösser von Liljenholm auszuwechseln, und deshalb wunderte es Nella umso mehr, dass ihre Schlüssel noch passten. Die Haustür glitt mit einem lauten Ächzen auf, und sie stellte den Koffer so unwirsch ab, dass die Fliesen vor Verblüffung dröhnten. Mit einer schnellen Bewegung schaltete sie die Wandleuchte ein. Etwas stimmte nicht an dem stickigen Geruch in der Diele. Als wäre ihm etwas anderes, etwas Herbes beigemischt. Sie blieb vor dem ovalen Spiegel stehen, der kleiner war, als sie ihn in Erinnerung hatte.
»Mutter? Mutter, bist du hier?«
Doch Antonia schwieg wie ein Grab, und ich hätte selbstverständlich nie eine so abgedroschene Wendung bemüht, hätte Nella nicht darauf bestanden, dass es sich genau so angefühlt hatte. Wie ein Grab, das sich öffnete. Vor ihrem inneren Auge sah sie die kalten Überreste von Fräulein Lauritsen, an dem Morgen, an dem sie tot in ihrem Bett gelegen hatte, als Nella sie mit einem Frühstückstablett hatte überraschen wollen. Nella hatte das Tablett auf dem Schreibtisch abgestellt, war neben sie auf das Bett gekrochen, so dicht an ihren massigen Körper heran, wie sie nur konnte, und hatte ihrer Laurits etwas ins Ohr geflüstert. All die lieben Worte, die sie ihr nicht mehr hatte sagen können, weil sie ihr erst jetzt einfielen.
Wie lange sie dort gelegen und geflüstert und wie lange Antonia in der Tür gestanden und sie angestarrt hatte, wusste niemand. Doch plötzlich hörte Nella sie reden, mit leiser, eindringlicher Stimme und zusammengepressten Lippen. » Du hast sie mir genommen«, hatte sie gesagt, und Nella hatte nicht gewusst, zu wem Antonia sprach. Oder über wen sie sprach. Tränen liefen ihre Wange hinunter, doch ansonsten sah ihr Gesicht unbeeindruckt aus. »Mutter, weinst du?«, hatte Nella gefragt, doch Antonia hatte sich bereits abgewandt.
Jetzt trat Nella vor den großen Spiegel in der Halle und richtete ihr Haar, das in den letzten zehn Jahren dunkler und kräftiger geworden war. Das hellrote Rouge ließ sie in dem schwachen gelben Licht der Wandleuchte krank aussehen. Sie starrte in ihre Augen. Ihre Pupillen waren größer als sonst, und der Regen hatte die Mascara verlaufen lassen. Wenn sie Lily wirklich ähnlich sah, wie Antonia zu behaupten pflegte, musste Lily hin und wieder ein ausgesprochen unschöner Anblick gewesen sein. Nella versuchte, die einmal so ordentlich aufgesteckte Frisur zu richten und die Lippen mit einem rosa Lippenstift nachzuziehen, doch ihre Hände gehorchten ihr nicht.
Als sie die Stufen hochstieg und die Tür zum Vorzimmer öffnete, bemerkte sie als Erstes, dass alles kälter und dunkler war, als sie es in Erinnerung hatte. Die Gardinen bewachten die Fenster vom Teezimmer bis zum Speisezimmer und der Bibliothek, und irgendwo knallte eine Tür.
»Mutter?«
Einen Augenblick meinte sie, schräg über ihrem Kopf ein leises Heulen zu hören, doch das konnte ebenso gut der Wind sein, der den Regen gegen die Mauern trieb. Unwillkürlich zog sie ihre langen Ärmel noch weiter herunter.
»Mutter? Bist du da?«
Das rauchfarbene Opalglas in der Bibliotheksdecke leuchtete auf, und der Wind umfing das Dach mit seinen Klauen. Bald würde die Elektrizität sich verabschieden, es sei denn, Antonia hatte die Sicherungen ausgewechselt. Die Tür zu ihrem Arbeitszimmer stand offen. Im Zimmer war Licht, und zunächst meinte Nella zu sehen, was sie dort immer gesehen hatte: Antonias breite Schultern
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