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Das Turmzimmer

Das Turmzimmer

Titel: Das Turmzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonora Christina Skov
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drüben liegt. Auf dem Boden neben dem Regal. Ich habe es nicht mehr geschafft, ihn zu entsorgen.«
    Antonia fielen die Augen zu.
    »Das ist mein letzter Wunsch«, murmelte sie. Nella griff nach dem ersten Zeitungsausschnitt in dem Stapel, er war aus einer Wochenzeitung, wie es aussah. Antonia hustete, bis sie fast erstickte.
    »Ich will … unter keinen Umständen …«
    Sie hustete weiter. Nella hob den Stapel auf und brachte ihn zu dem Ohrensessel und der Decke. Als sie die Leselampe eingeschaltet hatte, bekam Antonia endlich wieder Luft.
    »Ich will unter keinen Umständen, dass du auch nur ein Wort davon liest«, sagte sie. Doch Nella hatte bereits begonnen.
    Zunächst arbeitete sie sich durch zwanzig Teile eines Fortsetzungsromans von 1898, der, der ordentlichen Quellenangabe in der rechten Ecke zufolge, in der Literaturzeitschrift Revue erschienen war. Die Heimgesuchten hieß er, und die Handlung spielte zwar auf einem Gut, das mit etwas gutem Willen an Liljenholm erinnerte. Doch die Sprache war schwer wie ein Landschaftsgemälde, und die Hauptperson, Elisabeth Rose, machte einen neurotischen und langweiligen Eindruck. Außerdem war Nella ihr Verhalten total unerklärlich. Elisabeth Rose tat im Großen und Ganzen nichts anderes, als mit unsicherer Nadel Kissenbezüge zu besticken, während die Gespenster die Dinge, die ihr etwas bedeuteten, von einem Ende des Guts ans andere räumten. Wenn sie es bemerkte, legte sie sich auf ihre Chaiselongue und weigerte sich tagelang aufzustehen. Im Laufe der Geschichte verheiratete ihr böser Vater sie mit einem noch böseren Gutsbesitzer, den sie schließlich zugunsten seines ritterlichen Sohns verließ. Nella blätterte sich durch die Seiten.
    Der Fortsetzungsroman war von einer Frau geschrieben und der Name der Frau Antonia Lily. Die Namen standen nebeneinander, als wäre es das Natürlichste auf der Welt. Antonia. Lily. Und nach mehreren Teilen ging aus den Leserbriefen hervor, dass Antonia Lily einen treuen Leserkreis hatte, der darauf brannte zu erfahren, wer sich hinter dem Pseudonym verbarg. Nella rechnete nach. 1898 konnten Antonia und Lily nicht älter als vierzehn Jahre gewesen sein und den Fortsetzungsroman wohl kaum selbst geschrieben haben. Oder doch?
    Antonia murmelte irgendetwas von ihrem Bett aus, sodass Nella die Zeitungsausschnitte in den Schoß fielen, und während sie sie wieder einsammelte, wuchs ihre Verwunderung. Antonia hatte mit Sicherheit nichts davon erzählt, dass Lily und sie in ihrer späten Kindheit Geschichten geschrieben hatten. Ganz im Gegenteil, sie hatte diverse Male festgestellt, dass Lily weder Talent für das Schreiben noch Interesse daran gehabt hätte, und einmal hatte sie sogar mehr als das gesagt: »Auf die Länge der Zeit war die Eifersucht wohl zu schwer zu ertragen.« Das war einige Jahre vor Nellas Bekanntschaft mit dem Selbstmordfenster gewesen. Antonias Gesicht war oberflächlich betrachtet ausdruckslos geblieben. Nella sah sie deutlich vor sich, jünger als jetzt, doch mit denselben alten Augen.
    »Lily war immer diejenige, die am Rand stand und zusah, während Simon und ich … ja, du weißt doch, wie viel wir einander bedeutet haben«, hatte sie gesagt.
    »Als wir dich bekamen, wurde es noch schlimmer mit Lilys Eifersucht, und dann waren da noch meine Bücher. Sie verkauften sich über alle Maßen gut. Ich war hier und da und überall, wie das so ist, wenn die Zeitungen über einen schreiben. Doch mit den Jahren wurde Lily immer verbitterter und launischer. Sie ging vor unseren Augen zugrunde. Ich weiß nicht, ob du dir vorstellen kannst, wie es ist, das mit anzusehen. Ich habe natürlich versucht, sie vor sich zu retten, das haben wir alle, aber Lily … die Lily, die ich geliebt habe, gab es bereits nicht mehr. Manchmal denke ich, dass ich einen hohen Preis für meinen Erfolg bezahlt habe. Höher, als mir bewusst war.«
    Normalerweise war Antonia kein Mensch, der sich mehrere Sekunden hintereinander ansehen ließ. Normalerweise hätte sie die Unterhaltung mit Nella auch längst beendet, doch nicht an diesem Tag. Das Gesicht hatte sie zum Park hin gewandt. Es war Frühjahr, das Fenster stand offen.
    »Lily fing an, verwirrt auf Liljenholm herumzulaufen, besonders oben in den Turmzimmern. Ich wusste nie, wann sie plötzlich in ihren zerrissenen Sachen auftauchen und mich der schlimmsten Dinge bezichtigen würde. Also blieb ich die meiste Zeit in diesem Zimmer. Simon war immer öfter in Kopenhagen. Er musste sich

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