Das Turmzimmer
viele Male entschuldigte. Offenbar hatte es doch länger gedauert, mit dem Verlag umzuziehen, da die meisten Umzugswagen nicht fahrtüchtig waren, und die, die fahrtüchtig waren, kosteten ein Vermögen, das Nella erst zur Verfügung stand, nachdem sie Ambrosius kontaktiert hatte. Auf ihn ist immer Verlass, obwohl Nella regelmäßig die Augen verdreht, wenn ich das sage.
»Ich hatte doch keine Ahnung, dass du auf mich gewartet hast«, sagte sie mehrmals. »Ich habe geglaubt, du schreibst.«
»Das eine schließt das andere doch nicht aus?«
Sie roch nach einem neuen Parfüm. Nach Rosen, glaube ich. Oder Maiglöckchen.
»Du ziehst deine eigene Gesellschaft doch gewöhnlich der anderer vor, wie also sollte ich wissen …?«, murmelte sie in mein Revers, und ich habe keine Ahnung, wie sie zu dieser bizarren Vorstellung kommen konnte. »Hör zu, Nella«, wollte ich sagen. »Ich ziehe deine Gesellschaft jederzeit meiner eigenen vor.« Doch stattdessen murmelte ich in ihr hochgestecktes Haar, dass es ein äußerst produktiver Monat gewesen und ich bestimmt nur übermüdet sei, weil ich seit den Morgenstunden geschrieben hatte. Nun ja, und im Übrigen könne sie gern alle Seiten lesen, wenn sie die Zeit habe. Dann würde sie hoffentlich verstehen, dass ihre Gesellschaft geschätzt wurde.
Selbstverständlich war ich davon ausgegangen, dass sie sofort mit Lesen anfangen würde, doch offenbar gab es für sie andere und wichtigere Dinge, sich die Zeit zu vertreiben. Die ersten Tage beschäftigte sie sich mit den Aktenschränken, stellte die Möbel in Simons altem Arbeitszimmer um und verbreitete überall ein Meer von Papieren. Schon bald war das Klavier kaum mehr zu sehen, doch man hörte Nella oft darauf spielen. Ja, das tut man manchmal noch immer. Skalen, wie es den Anschein hat, und sonderbare Liedfetzen. Jedes Mal, wenn man glaubt, ein bekanntes Lied zu erkennen, geht es in ein anderes über, das man mit Sicherheit noch nie gehört hat. Ich tue, was ich kann, um mich auf diese Geschichte zu konzentrieren, doch das verlangt mir allmählich ebenso viel ab wie die Zeit, in der Liljenholm und ich uns selbst überlassen waren.
Vor zehn Tagen hatte ich Nella einen ganz unschuldigen Besuch im Arbeitszimmer abstatten wollen, da ich hinter der Tür, die seit den Morgenstunden geschlossen war, das Klappern ihrer Schreibmaschine erahnt hatte. Doch als ich anklopfte und den Kopf hineinsteckte, sah sie nur zerstreut auf. Das Haar fiel ihr zerzaust in die Stirn.
»Ich bin gerade mit etwas beschäftigt«, sagte sie. Das war nicht zu übersehen. Sie saß inmitten eines Papierhaufens, von dem ich annahm, dass es der Schreibtisch sein musste, senkte demonstrativ den Blick und schrieb weiter. Es änderte auch nichts, dass ich sagte: »Ja, dann will ich dich nicht weiter stören!«, und stehen blieb. Sie legte lediglich einen Stapel Notizbücher, die aussahen, als gehörten sie Fräulein Lauritsen, an eine andere Stelle, öffnete eins davon und murmelte »Danke«. Neben ihr in einem Aschenbecher lag Fräulein Lauritsens Medaillon. Es war noch immer geschlossen.
Heute habe ich herausgefunden, dass es Fräulein Lauritsens Tagebücher sind , über denen Nella sitzt, wenn sie nicht die Veröffentlichung von Eine Handvoll Orkane vorbereitet. (Habe ich geschrieben, dass Nella jetzt Antonias Bücher verlegt? Wenn nicht, wissen Sie es jedenfalls jetzt, lieber Leser.) Sie schreibt die Tagebücher ganz einfach ab und kürzt sie. Ich habe es herausgefunden, als ich an ihrem Arbeitszimmer vorbeiging, während sie sich woanders aufhielt, wo, darauf komme ich gleich zurück. Lassen Sie mich als Erstes betonen, dass meine Intention einzig und allein die war, ihre Blumen zu gießen. Nur damit Sie nicht denken, es könnte mir in den Sinn kommen, in Nellas Sachen herumzuschnüffeln, denn da verläuft für mich selbstverständlich die Grenze. Ganz zufällig habe ich die unterste Schublade in ihrem Schreibtisch geöffnet, und da lagen sie. Nicht ganz verdeckt unter ein paar leeren Seiten. Anschließend habe ich weiter Blumen gegossen, und inzwischen bin ich zu dem Schluss gekommen, dass Nella daran arbeiten muss, die Tagebücher für eine Veröffentlichung zusammenzuschreiben. Wahrscheinlich für einen zusätzlichen Band zu diesem Buch.
Die Zeit wird zeigen, ob meine Vermutungen stimmen. Wenn Nella mein Manuskript erst einmal gelesen hat, werde ich es wohl wissen, doch das wird, wie es aussieht, noch eine Weile dauern. In den letzten Tagen hat sie
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