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Das Turmzimmer

Das Turmzimmer

Titel: Das Turmzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonora Christina Skov
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beschränken sich auf Gedichtsammlungen. Nella hat alle Tagebucheintragungen laut vorgelesen. Wir wunderten uns, weil das Schreckliche, das dort stand (oder vielleicht eher nicht stand), in der Zeit lange vor den Ereignissen liegt, von denen wir aus Fräulein Lauritsens Tagebüchern wussten. Soweit Nella das nachvollziehen konnte, wurde Fräulein Lauritsen von Horace und Clara erst rund dreißig Jahre, nachdem Hortensia an ihrem vierzehnten Geburtstag, dem 15. April übrigens, in den Tod gesprungen war, eingestellt. Nella rieb sich die Schläfen.
    »Was glaubst du, war so schrecklich, dass sie nicht darüber schreiben konnte?«
    Ich wollte gerade antworten, als mir etwas dämmerte.
    »Soweit ich mich erinnere, hat Fräulein Lauritsen in Verbindung mit Hortensia irgendwann etwas von einem Verdacht geschrieben. Ich habe dem nur keine besondere Bedeutung beigemessen, weil mir alles andere sehr viel schlimmer erschien. Ziemlich ungerechtfertigt, befürchte ich.«
    »Und was ist mit dieser toten Elisabeth, von der Hortensia schreibt? Hat Laurits auch etwas über sie geschrieben?«
    »Nein, ich denke nicht.«
    Hier sollte ich vielleicht erwähnen, dass Fräulein Lauritsen von mehreren Personen mit Namen Elisabeth schreibt, denn sowohl Antonia als auch Lily hießen mit zweitem Namen Elisabeth. Nicht besonders originell, muss man sagen. Doch wie dem auch sei, muss diese Elisabeth dreißig Jahre früher gelebt haben, und wenn sie auf Liljenholm gewohnt hätte, hätte Laurits sie wohl erwähnt. Zu diesem Schluss kamen zumindest Nella und ich. In Sekundenschnelle war sie an der Tür.
    »Kannst du dich in etwa erinnern, an welcher Stelle Laurits ihren Verdacht geäußert hat?«
    Sie holte das kleine Notizbuch heraus, das sie immer bei sich trug.
    »Ich glaube, als Liljenholms Finanzen ernsthaft den Bach hinuntergingen. Unmittelbar vor Horaces und Claras Tod.«
    Nella nickte und machte sich eine Notiz.
    »Ich finde das sofort heraus. Bist du so lieb und wartest?«, bat sie, und während ich warte, kann ich auch gut ein paar Seiten aus dem Tagebuch der armen Hortensia abschreiben. Dann können Sie sich selbst ein Bild machen, ob Nella und ich uns über eine Nichtigkeit aufgeregt haben oder nicht.
    2. 1. 1850
    Es ist etwas passiert, über das ich nicht reden kann. Ich weiß genau, dass es meine eigene Schuld ist, aber ich weiß nicht, was ich getan habe, dass ich es verdiene, so hart bestraft zu werden. Wenn nur Elisabeth hier gewesen wäre, hätten wir über etwas anderes reden können, aber sie ist ja tot. Hört die Sehnsucht denn nie auf?
    20. 2. 1850
    Heute Nacht ist das Schreckliche wieder passiert. Ich weiß nie, wann es passiert. Das ist fast am schlimmsten daran. Wenn ich nur die Tür abschließen könnte, aber es hilft nicht. Im Moment fällt mir tatsächlich nur eins ein, das helfen würde, doch das wäre eine Sünde. Eine noch größere Sünde?
    2. 3. 1850
    Ich fürchte, daran zu ersticken. Jetzt gibt es Drohungen. Mein Mund ist verschlossen, und trotzdem sind die Drohungen da. Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll, und ich höre wieder Dinge. Oben im Turmzimmer ist alles wieder da.
    10. 3. 1850
    Das Schlimmste ist, dass Gott mich jetzt wohl aufgegeben hat. Als Mutter gefragt hat, warum ich das Kreuz nicht mehr trage, habe ich gelogen und gesagt, dass ich es verloren habe, und sie hat gesagt, dass ich mir zur Konfirmation ein neues wünschen kann. ZUR KONFIRMATION ?
    28. 3. 1850
    Heute Vormittag hat Mutter gefragt, ob es mir gut geht, und ich habe Nein gesagt. Aber sie hat nicht weitergefragt. ALLE wenden sich von mir ab. Vielleicht sehen sie es mir schon an?
    13. 4. 1850
    Es gibt keine Worte, die beschreiben können, was ich fühle. Meine Nägel sind bis auf das Nagelbett heruntergekaut.
    15. 4. 1850
    Ich glaube an ein Leben nach dem Tod für uns beide.
    »Ich habe die Stelle gefunden! Hier, lies!«
    Nella hat eben eins von Fräulein Lauritsens Tagebüchern neben mich gelegt und mit ihrem Finger auf die richtige Stelle gezeigt. In aller Bescheidenheit, mein Gedächtnis muss wirklich erstklassig sein, dass ich mich an sie erinnert habe, denn es geht um höchstens zehn Zeilen, und die haben wir jetzt eine geraume Weile angestarrt. Oder ich habe sie angestarrt, um bei der Wahrheit zu bleiben. Nellas Stirn ruhte auf der Tischplatte, und das tut sie noch immer, und hin und wieder murmelt sie in das abgenutzte Mahagoni, dass Fräulein Lauritsen zweifellos recht gehabt hat mit ihrem Verdacht. Das ist auch meine Vermutung.

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