Das Turmzimmer
Krägen und Pelzwerk bedeckt, und auf einem Bild lachte sie und blinzelte mit einem Auge.
Nella hatte sich bereits in die Lektüre vertieft, doch ein vergilbtes Blatt Papier ragte aus dem Stapel heraus. Die ordentliche Handschrift fiel ihr ins Auge. Sehr schräg und spitz, fast, als wären die Worte mit einer Nadel gestickt. Sie füllten mehrere hundert Seiten, wie sich zeigte. Nellas Hände blätterten darin. Es bestand kein Zweifel, dass sie ein Originalmanuskript in der Hand hielt, voll mit Streichungen und blauen Anmerkungen am Rand, die nicht zu entziffern waren. Derjenige, der die blaue Tinte vorgezogen hatte, hatte in einer Schrift, die bestenfalls an ausgerollte Garnknäuel erinnerte, über die ordentlichen, gestickten Sätze hinweggeschrieben. Nella hielt die Seiten gegeneinander. Die ordentlich gestickten Sätze veränderten sich und wurden in den Bögen runder und in den Is länger, nur eine halbe Seite lang, dann wurden sie wieder spitz, und so ging es weiter. An verschiedenen Stellen, wo Abschnitte hinzugefügt worden waren, änderte sich die Papierqualität, und an einer Stelle übernahm der blaue Stift das Wort und behielt es über acht Seiten. Nellas Augen stolperten über ein Wort. Einen Namen, der immer wieder auftauchte, ihr eigener Name. Nella, Nella, Nella.
Bevor sie sich selbst daran hindern konnte, war sie zum Regal geeilt und griff wie von selbst nach Lady Nellas geschlossene Augen . Die Erstausgabe in einem roten Ledereinband mit Golddruck. Sie wusste genau, wo sie stand. Einen Augenblick zögerte sie, den Finger auf dem mit Gold bedruckten Rücken. Zögerte erneut mit dem schweren Buch im Schoß.
Hortensias Tagebuch
Ich bedauere die alles andere als passende Unterbrechung, doch vor Kurzem kam Nella hier hereingestürmt. Zunächst habe ich versucht anzudeuten, dass ich mitten in ihrer Detektivgeschichte saß. Da würde sie mir wohl freundlicherweise die nötige Arbeitsruhe gewähren? Nur die nächsten Tage? Doch sie schüttelte den Kopf.
»Die Geschichte von Antonia Lily muss einfach einen Moment warten«, sagte sie, und nachdem ich mir das, was sie mir gegeben hat, genauer durchgelesen habe, bin ich geneigt, ihr recht zu geben. Haben Sie Nachsicht mit mir, lieber Leser. Ich hatte mich darauf gefreut, Ihnen zu verraten, was Nella beim Aufschlagen von Lady Nellas geschlossene Augen herausgefunden hat, doch Nellas neue Entdeckung beschäftigt mich einfach zu sehr, als dass ich sie unbeachtet lassen kann.
Habe ich geschrieben, dass es sich um das Tagebuch von Horaces Schwester Hortensia aus dem Jahr, in dem sie starb, handelt? Das habe ich nicht, wie ich sehe, doch so war es. Vom 2. Januar bis zum 15. April 1850, ordentlich eingeschlagen in weißes Papier, auf dem in silberner Schrift Tagebuch steht, sodass sich über den Inhalt niemand im Unklaren sein kann. Oder doch, aber darauf komme ich noch zurück. Denn zuerst muss ich sagen, dass ich beinahe einen Herzschlag bekommen habe, als ich hörte, wo Nella es gefunden hat.
Die letzten Tage saß sie in ihrem Arbeitszimmer und hat die vielen vorausgegangenen Seiten gelesen, die ich bereits geschrieben habe, und die wenigen Male, die ich sie sah, schien sie mit dem meisten davon zufrieden. Gestern meinte sie jedenfalls noch, dass sie gerade unverschämt genug klinge . Dabei liegt es mir fern, mich zu loben. Heute Morgen hat sie jedoch meinen Verdacht bestätigt, dass sie daran arbeitet, Fräulein Lauritsens Tagebücher für eine Veröffentlichung zu kürzen. »Damit Laurits’ Teil der Geschichte auch erzählt wird«, wie sie sagt. Von einem Ergänzungsband zu diesem Buch ist jedoch nicht die Rede, soweit ich das verstanden habe, sondern von einem selbstständigen zweiten Buch. Somit ist das hoffentlich klar.
Doch langer Rede kurzer Sinn: Völlig naiv habe ich zu wissen geglaubt, wo Nella sich aufhielt. Nämlich im Arbeitszimmer vor meinem Manuskript. Und desto mehr beunruhigt es mich zugeben zu müssen, dass sie ohne mein Wissen den größten Teil des Vormittags im östlichen Turmzimmer verbracht hat. Sie ist offenbar noch immer dabei, das Haus zu durchstöbern, und oben auf dem bereits erwähnten Dachbalken hat sie das Tagebuch gefunden. Genau über dem kleinen Haken, an dem Nellas ausgerissene Haare gehangen haben, und wie sie richtig schlussfolgert, lässt einen das unleugbar vermuten, dass das Buch für sie bestimmt war.
Die Tagebucheintragungen sind sehr kurz. Fast wie Gedichte, behauptet Nella. Meine Kenntnisse über die Dichtkunst
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