Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Turmzimmer

Das Turmzimmer

Titel: Das Turmzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonora Christina Skov
Vom Netzwerk:
jedenfalls ihre kostbare Zeit mehr dafür genutzt, Liljenholm gründlichst zu durchstöbern, als in ihrem Arbeitszimmer »gerade mit etwas beschäftigt« zu sein.
    »Wenn irgendwo noch mehr Tagebücher oder Briefe oder Bilder sind, werde ich sie finden«, hat sie die Male gesagt, die ich versucht habe, sie von ihrer Expedition , wie sie ihr Vorhaben nennt, abzubringen. Vor allem der Teil der Expedition, der in die äußeren Bereiche wie Park, Keller, erste Etage und Turmzimmer führt, weckt meine Besorgnis, und vor einiger Zeit habe ich, nach gründlicher Überlegung, die Konsequenzen gezogen. Ich saß sowieso wie auf heißen Kohlen in meinem Arbeitszimmer und bekam nicht eine Zeile geschrieben, was genau genommen ja weder in meinem noch in Nellas oder Ihrem Interesse ist. Deshalb ging ich mit zielgerichteten Schritten zum östlichen Turmzimmer, und als ich in der Tür stand, glaubte – und hoffte – ich zunächst nicht richtig zu sehen. Ganz hinten im Zimmer saß eine Frau auf einer wellenförmigen Chaiselongue, das Haar verdeckte ihr Gesicht wie auf Abwege geratener Tang. In den Händen hielt sie etwas Dunkles, fast Schwarzes. Mit einer schnellen Bewegung warf sie das Haar zurück.
    »Du hast mich erschreckt!«
    Es war Nella, wie ich jetzt sah, und das Zimmer sah genau so aus, wie ich es in Erinnerung hatte. Dunkle Schränke an der einen Wand, gebundene Bücher an der anderen, vergitterte, sehr hohe Fenster, die es dem Licht gnädigst gestatteten, in das Zimmer einzudringen. Ein kleiner Kegel fiel auf Nellas Füße.
    »Willst du nicht herunterkommen?« Meine Stimme klang, als hätte sie zu lange draußen im Regen gestanden. »So wird die Wahrheit über Liljenholm nie fertig geschrieben. Nie! Ich kann mich absolut nicht konzentrieren, solange du hier oben herumrennst.«
    Das Dunkle in Nellas Händen war ein Haarbüschel, stellte ich fest.
    »Das sind die Haare, die mir damals ausgerissen wurden, als ich hier oben überfallen worden bin«, sagte sie tonlos. »Ich bin mir ganz sicher. Siehst du nicht, dass das wichtig ist?«
    »Wichtiger als unser Buch?«
    Sie warf mir etwas Weißes, Morsches zu.
    »Das Haar hing an dieser Schnur an einem der Dachbalken.«
    »Du hast meine Frage nicht beantwortet.«
    Sie sah mich lange an. Es war nicht das erste Mal, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, was sie dachte.
    »So wie ich das sehe, sind dein Buch und meine Expeditionen gleich wichtig«, sagte sie. »Aber ich werde mich daransetzen und dein Manuskript lesen. Bist du jetzt beruhigt? Ich habe einfach nur ein paar Tage gebraucht, um mir ein Herz zu fassen. Ich glaube, die bräuchtest du auch, wenn du an meiner Stelle wärst.«
    Sie hob die Hand, wie sie das immer tut, wenn sie sich Gehör verschaffen will.
    »Es gibt nur einen Menschen, der mehr über einen weiß als man selbst, und das ist derjenige, der einen am besten kennt.«
    »Willst du damit sagen, dass ich …?«
    Doch sie schüttelte nur den Kopf und wandte sich wieder der Chaiselongue zu, um sie zu untersuchen, wie es den Anschein hatte. Sie stand auf und kippte sie vornüber, setzte sich auf den Boden und schob die Hände zwischen die Federn. Hätte sie vor fünf Jahren die gleiche Entschlossenheit bewiesen, hätte unbestreitbar alles anders ausgesehen. Doch Liljenholm vor fünf Jahren … Ja, wer weiß schon, wie ich die Sache angegangen wäre, wenn ich die Tochter des Hauses gewesen wäre und meine sterbende Mutter nach mir geschickt hätte?

Nella macht gewisse Entdeckungen
    Antonia sprach so leise, dass Nella sich zu ihr vorbeugen musste. Sie schluckte mehrmals, um die Scheibe Brot im Magen zu behalten, die sie gerade in sich hineingestopft hatte.
    »Kannst du bitte etwas deutlicher sprechen, Mutter?«
    »Ich möchte dich um etwas bitten.«
    Antonia hatte Schwierigkeiten, die Lippen zu öffnen. Sie waren voller als ihr restlicher Körper. Die Lippen einer Lebenden im Gesicht einer Toten, und jetzt spitzten sie sich.
    »Versprichst du zu tun, was ich sage?«
    Das Unwetter schien jetzt, wo es dunkel geworden war, sehr viel unheimlicher, und irgendetwas ging über ihren Köpfen zu Bruch. Porzellan, wie es klang.
    »Versprichst du es?«, beharrte Antonia. Nella zog langsam die Gardinen vor, strich den Stoff glatt und bürstete unsichtbare Fusseln von den von der Sonne verblichenen, braungrünen Stores. Antonia musste es irgendwie geschafft haben, die Hände auf die Decke zu legen. Jetzt versuchte sie, sie zu falten.
    »Du musst den Stapel verbrennen, der dort

Weitere Kostenlose Bücher