Das Turmzimmer
in ihr zerbrach. Vielleicht war es ihr Herz, dachte sie noch, bevor alles rot wurde.
»Die ganzen Jahre hast du mir von meinem großartigen Vater und eurem großartigen Verhältnis vorgeschwärmt! Und das eine Mal, das ich mir erlaubt habe anzudeuten, dass mein Vater ein Verhältnis mit Lily gehabt haben könnte … erinnerst du dich, wie wütend du geworden bist? Warum hast du mir nicht einfach gesagt, wie es wirklich war, Mutter? Für mich hätte das keinen Unterschied gemacht, ich habe sie ja nicht einmal gekannt. Ich kenne nur dich.«
Die Erlebnisse hatten Nellas Stimme stark mitgenommen. Sie klang wie die einer anderen.
»Erinnerst du dich nicht, was du gesagt hast?«, fuhr sie fort. »Als frischverheiratetes Paar war euer Verhältnis wie verzaubert, und ihr seid so unglaublich glücklich gewesen, erinnerst du dich? Vater war ein unglaublich edler Mensch , falls du das vergessen haben solltest. Du hast ihn so vermisst, dass du ihm all deine Bücher gewidmet hast und mir nicht ein einziges.«
Langsam öffnete Antonia die Augen. Sie sahen auf eine Weise müde aus, die Nella fremd war. Müde und noch irgendwie anders.
»Das war die Abmachung, Nella«, sagte sie so leise, dass Nella sich vorbeugen musste. Antonias Atem verursachte ihr Übelkeit.
»Kannst du etwas lauter sprechen, Mutter?«
»Das war die Abmachung«, wiederholte Antonia. »Doch zuletzt hat er seinen Teil gebrochen. Er hat sich verplappert. Das muss der Grund sein, warum dieser dumme Mensch nach dir geschickt hat.«
»Wer?«
Die nächsten Worte sprach Antonia mit sichtlichen Schwierigkeiten.
»Wenn er die Abmachung brechen kann, kann ich das auch. Dann erfährst du zumindest die Wahrheit, bevor ich …«
»Aber Vater ist doch im See ertrunken?«
Nella sah sich als kleines Mädchen. Ihre kurzen Beine, die zum Seeufer hinunterliefen. Die Augen, die Ausschau hielten und hofften, den Zipfel von ihm zu erspähen, der die Ungewissheit schwinden lassen würde. Jetzt blinzelte Antonia ihr mit einem Auge zu.
»Das war die Erklärung, von der wir meinten, dass sie zu seinem Verschwinden passen würde«, flüsterte sie. »In Wirklichkeit hat er sich an meiner geliebten Schwester vergangen, und du wärst ihm mit Sicherheit auch nicht entkommen, wären wir ihn nicht losgeworden. Er war mehrere Male kurz davor.«
»Er hat sich an Lily vergangen?«
Antonias Mundwinkel zitterten.
»Dein Vater hat sie hinuntergeschubst, Nella. Wir haben ihn schließlich alle drei gehasst. Er …«
Antonia versuchte sich offensichtlich zu sammeln.
»Er war so auf seinen Nachruhm bedacht, dieser Satan«, sagte sie nach einigen Minuten. Meinem Simon, der Liebe meines Lebens ! Ha! Er hat mich die ganzen Jahre gezwungen, Komödie zu spielen und ihm alle Romane zu widmen, damit niemand herausfindet, was für ein … verdammtes Schwein er in Wirklichkeit ist.«
Sie betonte verdammtes Schwein .
»Er lebt also noch?«
Antonia blickte an ihr vorbei. Sie schien all ihre Bücher mit den Augen zu liebkosen, ihre Mundwinkel verzogen sich leicht nach oben.
»Das hoffe ich wirklich nicht«, sagte sie. Es bestand kein Zweifel. Sie amüsierte sich über irgendetwas, und im selben Moment ging ein verzweifeltes Heulen durch Liljenholm. Nellas Herz hüpfte fast davon.
»Warum rufen die Gespenster da oben dann nach ihm?«
»Weil sie töricht sind.«
»Aber …?«
»Gespenster sind töricht, kleine Nella. Du wirst bestimmt einmal ein gutes Gespenst.«
Der heulende Laut kam zurück, schwächer diesmal, sehr viel schwächer. Nellas Mund war so trocken wie die Holzscheite, die sie in den Kamin warf.
»Aber du hast doch gesagt, dass es meine Schuld war, dass Simon und Lily verschwunden sind? War das auch gelogen?«
Ungeachtet, wie sehr sie in der Glut stocherte, war nicht ein einziger brennender Funke mehr darin. Sie musste sich beherrschen nicht zu schreien.
»Wie konntest du so etwas sagen, wenn es überhaupt nicht meine Schuld war? Ich habe es … die ganzen Jahre … geglaubt. Ich habe gedacht, dass ICH etwas ganz Furchtbares getan habe. Es hätte mich beinahe umgebracht! Mutter? Hörst du, was ich sage?«
Sie warf einen Bund brennender Streichhölzer auf die Holzscheite. Starrte in das Feuer, das sich langsam ausbreitete.
»Es gibt mehr als diese eine Geschichte, Nella«, hörte sie Antonia hinter sich flüstern. Ihre Stimme klang sonderbar abwesend. Nella drehte sich um. Antonias Augen waren weit geöffnet.
»Das ist die Geschichte von deinem Vater. Die kennst du jetzt,
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