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Das Turmzimmer

Das Turmzimmer

Titel: Das Turmzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonora Christina Skov
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mich selbst, wie ich ihre Hände über der Bettdecke faltete, sodass sie beinahe wie eine Heilige aussah. Ihre Haut wirkte wie frischgebügelt. Sie sah nicht aus, als ob sie überhaupt je gelebt hätte, und ich dachte: Vielleicht hat sie ja gar nicht gelebt? Vielleicht habe ich mir das nur eingebildet?«
    »Und was kam dann?«
    Mit einer seltsam toten Stimme antwortete Nella, dass sie sich an mehr nicht erinnern könne. Wäre das heute gewesen, in diesem Moment, in dem ich hier sitze, hätte ich darauf bestanden, dass sie gründlicher nachdenkt. Es kann schon sein, dass Madame Rosencrantz ein ganzes Buch auf ihren hochfliegenden Vermutungen aufgebaut hat, doch das ist nicht mein Stil. Ich will die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, auch um Ihretwillen, lieber Leser. Deshalb kann man mit etwas gutem Willen auch durchaus sagen, dass es lediglich die Rücksicht auf Sie war, die mich gerade eben dazu bewogen hat, auf Zehenspitzen, mit Simo auf den Fersen, das Zimmer zu verlassen, durch das Ankleidezimmer, die lange Treppe zur Küche hinunter und die völlig unschuldigen Stufen hinauf in Nellas Arbeitszimmer zu gehen.
    Ihre Tür war noch immer verschlossen, und eigentlich ging ich davon aus, dass das nur bedeuten konnte, dass sie völlig damit beschäftigt war, Fräulein Lauritsens Tagebücher abzuschreiben und zu kürzen. Ich wollte sie bestimmt nicht stören, und genau aus diesem Grund gebot ich Simo sich ruhig zu verhalten und spähte durch das Schlüsselloch. Nicht dass Sie glauben, dass ich normalerweise so an meine Informationen komme. Ich spähte also durch das Schlüsselloch. Die Tagebücher lagen wie üblich in hohen Stapeln um Nellas chaotischen Schreibtisch herum. Doch Nella saß nicht über die Tasten ihrer Schreibmaschine gebeugt davor. Stattdessen wanderte sie mit roten Wangen und zerzausten Haaren durch das Zimmer und murmelte irgendetwas vor sich hin, doch das war nicht das Beunruhigendste. Ich hoffe wirklich, dass Sie mir diese Indiskretion verzeihen, lieber Leser. Doch Nella hatte das Kleid ausgezogen, das wie eine überflüssige Haut auf der Klavierbank lag, und trug nichts bis auf ein weißes, durchsichtiges Unterkleid.
    Ich will nicht behaupten, noch nie etwas Ähnliches gesehen zu haben, denn mit den Jahren habe ich das eine oder andere gesehen. Außerdem teilen Nella und ich uns noch immer das Himmelbett, worin man hineininterpretieren kann, was immer man mag. Doch dieses Unterkleid unterschied sich wahrhaftig von ihren züchtigen Nachthemden. Ich kann gar nicht richtig beschreiben, welche Gefühle von mir Besitz ergriffen, doch Verblüffung war eines davon. Das Unterkleid war so tief ausgeschnitten, dass Nellas Busen fast aus dem Ausschnitt fiel, und die Schlitze waren so hoch … ja, das muss ich wohl nicht weiter ausführen. Es muss reichen zu sagen, dass meine Wangen nicht weniger rot waren als Nellas, als ich anklopfte. Sie drehte sich ruckartig um, und weder Simo noch ich hatten große Probleme damit, überrascht auszusehen. Ich habe mit den Jahren schon viel gesehen, aber noch nie ein Unterkleid, das so wenig verhüllte.
    »Ich bin gerade sehr beschäftigt«, murmelte sie, als sie sich beruhigt hatte. Seltsamerweise griff sie nicht direkt nach dem sittsamen Kleid, sondern nach dem aufgeschlagenen Tagebuch auf dem Schreibtisch. Nach einer Weile gelang es mir, mich auf ihren Finger zu konzentrieren, der auf eine Stelle darin zeigte.
    »Du zeigst auf ein Datum?«
    Die breite Spitze in Nellas Ausschnitt hätte zumindest weniger löchrig sein können. Vor allem, wenn sie sich vorbeugte wie jetzt.
    »Ja, das ist das Datum von Laurits’ letztem Eintrag«, sagte sie. Das Unterkleid raschelte leise, als sie sich aufrichtete. Ihre Stimme störte.
    »Die letzten drei Tage von Laurits’ Leben fehlen, und das wundert mich«, sagte sie. »Sie sind auch nicht herausgerissen worden, und deshalb bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ein Tagebuch fehlen muss. Und wenn ich mich nicht sehr irre, ist dieses Tagebuch wichtig.«
    Mit Sicherheit war es völlig vergeblich anzudeuten, dass Fräulein Lauritsen in den letzten Stunden ihres Lebens vermutlich anderes und besseres zu tun gehabt hatte, als Tagebuch zu führen. Zu sterben, beispielsweise. Aber ich sagte es ihr trotzdem.
    Nella seufzte.
    »Ich muss immer wieder an Laurits’ kleines, rotes Notizbuch aus meinem Albtraum denken«, sagte sie. »Ich glaube, dass wir danach suchen sollten. Ich bin fest davon überzeugt, dass es wichtig ist. So etwas spürt

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