Das Turmzimmer
gekleidete Gestalt entfernte sich mit schnellen Schritten. Und noch bevor Nella das Bild begreifen konnte, war sie schon verschwunden, und es war nur noch die Wildnis zu sehen.
Hier hätte ich lieber geschrieben, dass die Neugierde Nella weitertrieb. Am liebsten von Liljenholm fort, der Gestalt hinterher. Doch Nella hält daran fest, dass sie einfach die Treppe hinaufgeschlichen ist und es nicht einmal in Erwägung gezogen hat, das Gut zu verlassen.
Das Klagen wurde mit jeder Stufe lauter. Es klang nach mehreren Stimmen, die jammerten, dachte sie, und wenn sie sich nicht sehr irrte, war Fräulein Lauritsens eine davon. Sie jammerte etwas, das wie ich bitte dich, vergib mir klang, und erneut war Simons Name zu hören. Der Gang in der ersten Etage ist immer wesentlich länger, als man ihn in Erinnerung hat. Nella lief ihn hinunter. Lief und lief und stieg die ersten Stufen der Treppe zum östlichen Turm hinauf. Sie knarrten laut. Danach war es sehr lange still.
»Simon?«
Die Stimmen erklangen erneut, jetzt heiserer. Vorsichtig hob Nella den Fuß und setzte ihn auf die nächste Stufe. Sie zuckte zusammen. Dort oben ging etwas in die Brüche. Unendlich langsam verlagerte sie das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Ein Windstoß beutelte Liljenholm, und als die Stimmen durch es hindurchdrangen, klangen sie nicht länger wie von dieser Welt. Trotzdem ging Nella weiter, übersprang eine Stufe, die lose zu sein schien, und ihr entfuhr ein kleiner, erschrockener Laut. Denn in dem Moment, in dem die Tür zum Turmzimmer in ihr Blickfeld rückte, sah sie eine gebückte Gestalt auf der obersten Treppenstufe. Fräulein Lauritsen, ganz eindeutig. Sie stand dort oben, den Rücken ihr zugewandt, und in der Hand hielt sie Antonias Schlüsselbund. Mit einer routinierten Bewegung schwang sie die Schlüssel herum, bis sie den richtigen gefunden hatte, den sie ins Schloss steckte und umdrehte.
Doch Nella konnte ihr Gesicht nicht mehr sehen. Ihren Mund, der zweifellos ebenso groß und missgestaltet war wie zuvor in der Nacht. Denn in diesem Moment ging mit einem Knall das Licht aus, und Nella starrte in die alles umgebende Dunkelheit. Noch nie hatte sie sie als so undurchdringlich empfunden. Oder vielleicht doch. Damals im Turmzimmer. Damals mit den Schatten. Doch jetzt kamen die Stimmen von überall. Nella setzte sich auf die Treppe, wenige Stufen von der Tür entfernt. Sie konnte sich plötzlich nicht mehr von der Stelle rühren.
»Meine Beine gaben unter mir nach, und die Treppe … ich habe keine Ahnung, wie lange ich dort gesessen habe oder warum ich so geschrien habe«, fügte sie in der berüchtigten Nacht hinzu, in der sie mir die ganze Geschichte erzählt hat. Und noch ein paar andere Geschichten.
»Vermutlich hast du geschrien, weil du Angst hattest«, schlug ich vor, doch Nella schüttelte nur den Kopf.
»Nein, ich habe wie eine Verrückte geschrien. Du kannst das nicht verstehen, weil du dich nie so hast schreien hören«, sagte sie. Was so nicht ganz stimmt, doch ich ließ sie in dem Glauben.
»Ich habe nicht einmal mehr meine eigene Stimme erkannt«, fuhr sie fort. »Zuletzt war ich so heiser, dass jeder Laut, der aus mir herauskam, wie über Sandpapier gezogen war. Es brannte überall. Ich muss mich gekratzt haben. Ich weiß nicht, wer das sonst getan haben sollte. Meine Haut zeigte lange, angeschwollene Striemen, und ich hielt Haarbüschel in den Händen. Ich glaube auch, dass ich nach Laurits gerufen habe, aber ich glaube nicht, dass sie da war. Das heißt, irgendwann fühlte ich etwas Kaltes meine Wange streifen, es fühlte sich weich an, aber es konnte ebenso gut die Zugluft vom Turm her sein. Am deutlichsten erinnere ich mich daran, wie ich dasaß, die Hände zu Fäusten ballte und wieder öffnete. Ich musste das mehrere Male wiederholen, bevor ich das Geländer richtig zu fassen bekam und mich in eine stehende Position aufrichten konnte.«
Ihrer eigenen Aussage zufolge stand Nella lange so da, bevor sie realisierte, dass Liljenholm still geworden war. Sie hätte mit Leichtigkeit nach oben gehen können, der Schlüssel steckte sogar noch im Schloss, doch ihre Füße machten nicht mit. Stattdessen ging sie einen kleinen Schritt nach unten und noch einen. Schon bald war sie in der ersten Etage, und den Weg ins Erdgeschoss kannte sie nahezu im Schlaf. Antonia rief dort unten nach ihr, hörte sie. Sie stutzte. Ihre Mutter klang genauso herrisch wie in früheren Zeiten.
»Komm endlich, Nella!«
»Ja, Mutter,
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