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Das Turmzimmer

Das Turmzimmer

Titel: Das Turmzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonora Christina Skov
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gewesen sein und diese Müdigkeit erlebt haben, die einen hier draußen überfallen kann, um ganz zu verstehen, dass Nella im Laufe von zehn Sekunden einschlafen konnte. Das konnte sie. Und dazu noch so tief, wie sie weder zuvor noch danach jemals wieder geschlafen hat.
    Plötzlich fand sie sich zwischen den allzu bekannten Erbstücken und Gardinen wieder. Sie war so klein, dass alles um sie herum sie überragte. An den Füßen trug sie ihre Lackschuhe mit den harten Sohlen. Sie lief durch die Zimmer von Liljenholm, wie sie das jede Nacht getan hatte, so lange sie zurückdenken konnte. Sie wurde immer schneller. Doch in dem Moment, in dem sie ihr Ziel erreicht hatte und erwartete, hochgehoben zu werden, spürte sie ein paar kräftige Hände um ihren Hals und blickte auf.
    Ein lang gezogener, klagender Laut ließ sie zusammenzucken. Sie blinzelte mehrmals, doch der Mensch, der sie versucht hatte zu erwürgen, stand ihr noch klar vor Augen. Das Bild war nicht im Mindesten verschwommen. Die Dunkelheit hatte sich nicht darübergelegt. Dieser Mensch lag hier im Arbeitszimmer. Im Traum waren die Wangen runder und das Schlüsselbein in dem weiten, weißen Ausschnitt nur zu erahnen gewesen. Doch die Augen waren dieselben wie die, die sie jetzt ansahen. Sie schlossen sich langsam.
    »Jetzt ist es bald Zeit«, flüsterte Antonia mit einer Stimme, die nicht länger wie eine Stimme klang. Zunächst glaubte Nella, dass das bleiche Licht alles anders aussehen ließ. Es schlich sich jetzt durch die Ritzen in der Gardine. Sie stand zu schnell auf, und das Arbeitszimmer drehte sich einige Male, bevor es wieder still stand und Antonias Augen sich öffneten.
    »Hilf mir …!«
    Es sah nicht so aus, als würde sie noch das Gleiche sehen wie Nella. Die staubigen Möbel. Die umgestürzten Bücher.
    »Was soll ich tun? Mutter?«
    Antonias Mund verzog sich zu etwas, das zugleich ein Lächeln, aber auch ein Schrei sein konnte, und plötzlich begriff Nella, was sich verändert hatte. Überall war es vollkommen still. Draußen vor den Fenstern. Oben in den Türmen. Nur Antonias Stimme war zu hören, die an Stärke verlor.
    »Du musst meine Tochter finden …«
    Nella griff nach Antonias Händen und nahm sie in die ihren.
    »Ja, aber ich bin doch da. Mutter? Ich bin doch hier!«
    Antonias Hände versteiften sich einen Augenblick, dann drückten sie Nellas leicht.
    »Nein, nicht du, meine Liebe.«
    »Aber ich bin deine Tochter. Antonia? Kannst du mich hören?«
    Antonias Mundwinkel verzogen sich, nur ein ganz klein wenig. Sie blickte Nella nun direkt an. Es bestand kein Zweifel, dass sie sie sah.
    »Ich bin nicht Antonia«, flüsterte sie genau in dem Augenblick, in dem der erste Sonnenstrahl des Tages auf den Schreibtisch fiel. »Ich bin Lily.«

Nachbarschaftsaffären und Notizbücher
    Was Nella gedacht hat, als Antonia mit Lilys Namen auf den Lippen starb, kann man nur mutmaßen. In der Nacht, in der sie mir alles in der richtigen Reihenfolge erzählt hat, behauptete sie zumindest, sich daran nicht erinnern zu können.
    »Aber hast du dich nicht gefragt, ob das, was Antonia dir über Simon und Lily erzählt hat, wahr sein könnte?«, hakte ich nach. »Gar nicht zu reden von ihrer Tochter, von der sie plötzlich wollte, dass du sie suchst. Du musst dich doch gefragt haben, was Antonia dir eigentlich zu sagen versucht hat? Und dann dieser Traum!«
    »Was ist damit?«
    »Der war doch so etwas wie ein Durchbruch, wenn du mich fragst. Du wusstest plötzlich, wer damals versucht hat, dich zu erwürgen. Das ist doch bis auf die Sache mit dem Brieföffner sozusagen das Erste, an das du dich aus deiner Kindheit erinnerst. Und wenn ich an deiner Stelle gewesen wäre …«
    »Aber das warst du nicht.«
    »Nein, aber der Traum muss dich doch zu der Überlegung bewogen haben, wer letztendlich gefährlicher war: Simon oder Antonia. Oder Lily, wie Antonia offenbar lieber genannt werden wollte, als der Herr sie zu sich rief.«
    Doch Nella starrte nur mit leerem Blick vor sich hin, ungeachtet, wie viele Worte ich ihr in den Mund zu legen versuchte. Erst als es Zeit war, den Koffer zu packen und nach Kopenhagen zu reisen, um mit dem Verlag hier herauszuziehen, wurden ihre Augen mit einem Mal ganz groß.
    »Ich kann mich erinnern, dass die Farben langsam verschwanden«, sagte sie leise. »Genau wie damals nach Laurits’ Tod. Zuerst wurden die Farben seltsam bleich, dann wurden sie grau. Ich saß dort an Mutters Bettkante und sah alles in Grau und Weiß. Auch

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