Das Turmzimmer
und dann gibt es die Geschichte von dir und Lily und Lauritsen und deinen Großeltern und deren Eltern und bestimmt noch viele andere. Mehr kann ich nicht sagen.«
»Warum nicht?«
Antonia schien auf irgendetwas zu lauschen, doch Nella war sich nicht sicher.
»Weil es dich umbringen würde, mehr zu wissen, als du bereits weißt«, antwortete sie schließlich und betrachtete die Deckenlampe. Sie schaukelte leicht von einer Seite zur anderen. Antonia versuchte zu husten. Ein leises krampfhaftes Röcheln, bis Nella sie in eine sitzende Stellung aufgerichtet hatte. So saßen sie eine Weile. Länger, als nötig gewesen wäre.
»Wirst du mir ehrlich antworten?«, hörte sie Antonia fragen, und wieder hustete sie. Nella musste ihr fest auf den Rücken klopfen.
»Hätte es dir wirklich etwas bedeutet, wenn ich meine Bücher dir gewidmet hätte, Nella?«
Hätte es in Nellas Macht gestanden, hätten die Tränen sie nicht gerade in diesem Moment daran gehindert, klar zu sehen. Doch sie tropften in Antonias Haar, sie konnte nichts daran ändern, sie liefen an Antonias Hals hinunter und hinterließen große, nasse Flecken auf dem Bettzeug.
»Das … habe ich nicht geahnt«, sagte Antonia, als Nella sie schließlich zurück in die Kissen gelegt und ihre Decke geglättet hatte. »Ich hätte nicht gedacht, dass die Welt der Bücher deine Welt wäre, Nella, ich …« Sie unterbrach sich. »… die Götter mögen wissen, dass ich nicht immer die Mutter war, die du dir gewünscht hast. Doch letzten Endes habe ich alles getan, um dich zu schützen. Ich wünschte, du wüsstest wie viel.«
»Und was ist mit damals, als du gedroht hast, mich zu erwürgen?«
Antonia hätte nicht so amüsiert aussehen sollen, doch das tat sie. Amüsiert und sehr müde.
»Das war eine Ausnahme, meine Liebe«, murmelte sie. Nella konnte nicht mehr ruhig sitzen bleiben, sie wanderte auf und ab. Am liebsten hätte sie um sich geschlagen.
»Eine Ausnahme?«
Ihr Fuß stieß gegen etwas, das sich als Bücherstapel erwies. Er stürzte vor ihren Füßen in sich zusammen. Antonia blinzelte mehrmals.
»Ja, du wolltest einfach nicht einsehen, dass ich …«
Das Knistern des Kamins übertönte einen langen Moment ihre Stimme.
»Dass du was?«
»… dass ich immer dein Bestes gewollt habe. Im Moment trampelst du übrigens im Spiegelkabinett herum.«
»Was?«
»Der Bücherstapel, den du umgeworfen hast.«
Nella wollte schon weitertrampeln, doch etwas hielt sie zurück. Der Klappentext, der den Klappentexten aller anderen Bücher glich, die Antonia geschrieben hatte.
Das gleiche junge Fräulein und der böse Vater, der gleiche alte Ehemann und der junge Liebhaber, und etwas ging nicht mehr auf. Denn wenn Antonia die Wahrheit sagte und Simon, die Liebe meines Lebens, nie existiert hatte, konnte er Antonia wohl kaum zu dem jungen, virilen Liebhaber inspiriert haben, wie sie immer behauptet hatte. Und wenn er sie nicht zu dem jungen, virilen Liebhaber inspiriert hatte, wer dann? Und gab es Simon vielleicht trotzdem in den Büchern?
»Hat Simon dich dann zu dem bösen Vater und den alten Ehemännern in deinen Büchern inspiriert?«
Antonia schwieg, was nicht weiter überraschend war, obwohl Nella ihre Frage wiederholte. Schließlich öffnete sie ein Auge.
»Du meinst, weil er dreißig Jahre älter war als ich?«
Nella war so verblüfft, dass sie vergaß zu fragen, wer sie denn dann zu dem jungen Geliebten inspiriert haben könnte. Bis jetzt war Simon für sie ein junger, feuriger Ritter gewesen. Ihr Blick fiel auf Madame Rosencrantz’ Schmähschrift, die auf dem Boden lag. Am liebsten hätte sie sie in die Flammen geworfen. Oder besser noch zugesehen, wie die Flammen gewisse Passagen auffraßen und den Rest spüren ließen, wie es war, ungeschützt und verletzt zurückzubleiben.
»Dann bist du Madame Rosencrantz? Mutter?«
Antonia atmete aus und lag ganz still.
»Bist du Madame Rosencrantz?«
Nella legte das Buch auf den Schreibtisch. Antonias Mund öffnete und schloss sich mehrmals. Ihr Atem war so schwach, dass Nella einige Minuten brauchte, ihn wahrzunehmen, und um Antonias Augenlider breiteten sich deutliche, blaue Schatten aus.
»Antworte mir!«, versuchte es Nella ein letztes Mal, doch die einzige Antwort, die sie bekam, war das Heulen des Windes draußen. Wenn sie sich nicht sehr irrte, flaute er langsam ab. Plötzlich fühlte sie sich so müde, dass sie buchstäblich über Antonia in sich zusammenfiel. Man muss wohl einmal auf Liljenholm
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