Das Turmzimmer
das vom Tode gezeichnete Gesicht von Antonia.
Woher sie die Kraft genommen hatte, sich von ihrem Sterbebett zu erheben, ist ein Rätsel, wenn Sie mich fragen. Zu diesem Zeitpunkt war sie so schwach, dass sie kaum die Kraft hatte zu sterben. Doch ihr Wille war wohl auch von einer anderen Welt. Ihr Blick wanderte von der Tür zu einem Platz hinter Nellas linker Schulter. Nella wollte den Kopf in die gleiche Richtung drehen. Spürte den Zug bereits in den Nackenwirbeln. Doch in diesem Augenblick fiel Antonia wie eine knochige Decke auf sie, zusammengehalten von einem durchsichtigen weißen Nachthemd mit Spitze an den Ärmeln.
»Mutter?!«
Nellas Magen drehte sich beinahe um, als sie Antonias verfaulten Atem roch. Instinktiv schob sie sie zur Seite. Antonia sackte auf dem Boden in sich zusammen, ohne Widerstand zu leisten. Sie lag jetzt ganz still.
»Hilf mir«, flüsterte sie von dort unten. Nellas Blick schweifte durch das Zimmer.
»Nella? Ich kann nicht alleine aufstehen.«
Antonia klang jetzt beharrlicher. Doch Nellas Augen klebten an etwas auf der Fensterbank. Hinter ihrer linken Schulter. Es bestand kein Zweifel, dass es eine Schachtel Streichhölzer war.
Wäre ich unsere Heldin Nella von Liljenholm gewesen, hätte ich Antonia auf dem Boden liegen lassen, wie sie es verdient hatte, und meine volle Aufmerksamkeit auf das Klingeln gerichtet. Es hatte inzwischen zwar aufgehört, doch es bestand kein Zweifel, dass dieses Klingeln Nella gerade davor bewahrt hatte, ihr Elternhaus anzuzünden. Nun gut, ich bin wie bekannt nicht Nella, und eine richtige Heldin kann man mich auch nicht nennen, denke ich. Dazu habe ich mir das Nötigste zum Leben auf solche Weisen verdient, die jeden anständigen Menschen dazu veranlassen würden, sich zu bekreuzigen. Nella riss sich jedenfalls von dem Anblick der Streichholzschachtel auf der Fensterbank los und beugte sich über Antonia. Sie lag wie hingeworfen, den Kopf unter dem einen Arm. Es erwies sich als schwerer, als sie angenommen hatte, ihre Achseln zu finden und sie hochzuheben. Doch als sie erst stand, war sie beunruhigend leicht. Beinahe wie Luft, dachte Nella. Oder wie eine Marionette mit der Größe eines Menschen. In dem Moment, in dem ihr Kopf das Kissen berührte, fielen ihr die Augen zu. Zunächst meinte Nella, falsch gesehen zu haben. Schnell stopfte sie die Decke um Antonia fest und schob ihr ein zusätzliches Kissen unter den Kopf. Doch sie sah nicht falsch. Antonias Lippen formten ein stummes Danke für die Hilfe.
Nach der Begegnung mit Fräulein Lauritsen beschloss Nella wach zu bleiben, bis Antonia in den Himmel aufgefahren war. (Oder wohin ihr Weg nun ging. Ich will das nicht beurteilen.) Und eigentlich hätte das eine Kleinigkeit sein sollen. Liljenholm knarrte an den unmöglichsten Stellen, sichtlich unzufrieden mit den Wetterverhältnissen, doch Nella nickte immer wieder ein, bis sie plötzlich einen langen, klagenden Laut vernahm. Er konnte von überall kommen, doch Nella tippte erneut auf irgendeinen Ort über ihr und richtete sich auf. Mit etwas gutem Willen konnte es sich um ein Tier handeln, das eingesperrt war. Eine Katze vielleicht? Der Laut erklang wieder, und in dem Klagen meinte sie, einen Namen zu hören. Als sie aufstand, bemerkte sie, dass ihre Füße eingeschlafen waren. Jemand rief nach Simon.
Sie kreiste mit den Knöcheln, bis die Gelenke knackten. Das klagende Rufen hielt an. Einen Augenblick meinte sie sogar, dass das Klagen ein wenig wie Fräulein Lauritsens Stimme klang, doch ihr äußerst lebendiger Traum war ihr noch so präsent, dass sie sich nicht sicher war. Die Bibliothek war ein wenig besser beleuchtet als das letzte Mal. Blasse Schimmer an den Decken und einzelne Lichtflecken in den Ecken. Wenn sie nur niemand hörte, war sie so gut wie nicht da, und wenn sie so gut wie nicht da war, bestand kein Grund, Angst zu haben, aber warum in aller Welt …? Im Teezimmer blieb sie stehen. Ihre Knie klapperten im Takt mit einer Tür irgendwo über ihrem Kopf. Das Fenster hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Etwas bewegte sich dort draußen in der Dunkelheit, ganz dicht vor der Scheibe. Jetzt sah sie es wieder. Etwas Hüpfendes, das fast eins mit den Ästen war. Es musste ein Tier sein, doch gleichzeitig kam ihr das merkwürdig vor. Rehe waren zu scheu, um sich Liljenholm zu nähern, und Vögel hüpften wohl nicht auf diese Weise.
»Ist da jemand?«
Sie drückte die Nase gegen die Scheibe. Sie hatte sich nicht geirrt. Eine schwarz
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