Das Turmzimmer
lebst, desto besser. Ich wollte nur dein Bestes, das habe ich dir doch viele Male zu sagen versucht‹, und …«
»Aber sie war doch tot, Nella?«
»Ja, ja, das weiß ich! Sie war schon ganz kalt, und ihr Gesicht fiel langsam in sich zusammen wie grauer Schlamm. Wahrscheinlich durch die Schminke. Sie bröckelte am Haaransatz, um die Nase und um den Mund. Ich holte eine Waschschüssel und wusch alles ab. War das falsch von mir?«
Wir saßen eine Weile da. Das Grüne in Nellas Augen bewegte sich ein wenig. Ihre Pupillen wirkten größer als sonst.
»Es wunderte mich, wie anders Mutter unter der Schminke aussah«, sagte sie. »Ich kann mich erinnern, gedacht zu haben, dass man sie unmöglich wiedererkennen würde, hätte man nur ein Jugendbild von ihr gesehen. Doch vielleicht würde man die Augen wiedererkennen, wenn man genauer hinsah. Sie gleichen deinen ein wenig, wenn ich darüber nachdenke. Sie hatte auch schwere Lider und …«
»Vielen Dank!«
»Nein, ich meine keine hängenden Lider, ja? Nur ein wenig schwerer als bei den meisten Menschen, und irgendetwas war auch mit ihrem Mund. Ich hätte geglaubt, dass man stirbt, wie man gelebt hat, doch ich habe Antonia erst friedvoll lächeln sehen, als alles vorbei war. Um uns herum wurden die Farben immer blasser. Wie in Wasser aufgelöst sahen sie aus. Ich dachte daran, wie viele Jahre ich mich mit dem einen Zweck hingeschleppt habe, mich am Leben zu halten wie eine zum Tode Verurteilte, die noch nicht begriffen hatte, worauf das alles hinauslief. Wie zwecklos es war, weiterzuatmen. Ich konnte nahezu spüren, wie ich mich veränderte und mir immer fremder wurde, ich konnte dagegen ankämpfen oder es lassen. Schon bald würde ich mich nicht mehr wiedererkennen, ungeachtet dessen, was ich tat. Ich wusste es, und etwas in mir kam zur Ruhe.«
Ich erhob mich aus Nellas Stuhl. Meine Schritte klangen härter, als beabsichtigt. Nella hielt inne und zog eine Augenbraue hoch.
»Stimmt etwas nicht?«
Ich versuchte all das, was sie gesagt hatte, zu verdauen. Wie Sie sehen, lieber Leser, ist mir das inzwischen einigermaßen gelungen, doch ich hatte den Eindruck, dass eine ordentliche Schlussfolgerung fehlte. Oder vielleicht eher eine Teilschlussfolgerung, und damit habe ich hoffentlich nicht zu viel gesagt.
»Lass mich nachdenken …«
Der Nachmittag musste vergangen sein, ohne dass mir das aufgefallen war. Die Uhren auf Liljenholm schlugen jedenfalls fünfmal.
»Eins geht dabei nicht auf«, sagte ich und überhörte Nella, die seufzte, dass bestimmt noch mehr als eins nicht aufging, wenn man näher darüber nachdachte.
»Soweit ich das verstehe, verwandelte sich Lily in Antonia, ohne etwas dagegen tun zu können«, fuhr ich fort. »Aber warum um alles in der Welt glaubst du, dass ihr die Verwandlung auch nur im Geringsten gefallen hat?«
Wenn man mich fragt, war das eine gute Frage. Nicht, dass ich mich loben will, auch wenn es hin und wieder angebracht wäre, dass jemand das täte. Nella zum Beispiel, doch stattdessen bat sie mich, das näher auszuführen.
Als Nella vor Kurzem die letzten Seiten gelesen hat, behauptete sie, dass ich unseren letzten Wortwechsel völlig falsch verstanden habe.
»Ich weiß sehr gut, was du gemeint hast«, sagte sie. »Und da wir gerade dabei sind, mein Busen ist überhaupt nicht beinahe aus Claras altem Unterkleid gefallen. Du übertreibst so sehr, dass ich mich kaum wiedererkenne, auch das Unterkleid. Es ist zum Beispiel überhaupt nicht durchsichtig, und dann das mit der Spitze … ich zieh das Kleid noch mal hoch. Du musst schon entschuldigen! Aber anscheinend bedarf es ja wirklich nicht viel, dich zu schockieren. Wo soll denn hier Spitze sein?«
Hier muss ich mich natürlich auf meine künstlerische Freiheit berufen. Die Wirklichkeit zum Besseren hin verändern könnte man meine Intention auch nennen, doch Nella weiß offenbar nicht, was für sie und die Geschichte gut ist. Sie fegte alles, was ich sagte, vom Tisch, ohne ihm auch nur eine Chance zu geben. Deshalb will ich Ihnen die Details ersparen und nur erwähnen, dass ich mein Bestes tue. Ich sitze hier im Schweiße meines Angesichts und versuche, Nellas Geschichte so wahrheitsgetreu wie möglich wiederzugeben, wenn ich nicht gerade damit beschäftigt bin, die verschiedenen Wahrheiten, die sie mir schon längst hätte erzählen sollen, aus ihr herauszukitzeln.
»Ja, warum sollte Antonia die Verwandlung auch nur im Geringsten gut finden?«, fragte ich jetzt beispielsweise
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