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Das Turmzimmer

Das Turmzimmer

Titel: Das Turmzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonora Christina Skov
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wie ein Gedankensplitter vor und dann doch wieder nicht. Doch wie dem auch sei, habe ich mir ausgerechnet, dass Elisabeth von Frydenlund schon fünfunddreißig Jahre tot gewesen sein muss, als Antonia und Lily geboren wurden.«
    »Eine lange Zeit, um sie nicht zu vergessen.«
    Nella raffte mit einer schnellen Bewegung ihr Haar zusammen und steckte es mit einer Nadel hoch.
    »Ja, nicht?«, sagte sie. »Vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass Clara Horace vier Jahre nach Hortensias und fünf Jahre nach Elisabeths Tod geheiratet hat. Da war Horace 18 und Clara 16, und man sollte doch meinen … also, du weißt doch selbst, wie interessiert man in Familien wie meiner an Erben ist, doch Clara hat erst mit sechsundvierzig Zwillinge bekommen. Merkwürdig, dass so viele Jahre vergangen sind, nicht?«
    Hätte ich Nella an dieser Stelle gebeten, sich dazu zu äußern, ob sie sechsundvierzig grundsätzlich für zu alt hielt oder wie sie das sonst meinte, hätte sie sofort die Augen verdreht angesichts meines Altersproblems , wie sie es mittlerweile nannte. Deshalb kam ich mit einer völlig objektiven Feststellung:
    »Ich sehe einfach nicht, warum Horace und Clara ihre Töchter nach der längst verstorbenen Tochter der Nachbarn hätten nennen sollen, und wenn ich ganz ehrlich sein soll, verstehe ich auch nicht, warum das wichtig ist«, sagte ich. Nella blieb stehen.
    »Du bist wegen irgendetwas sauer.« Sie sah mich forschend an.
    Wie kam sie denn darauf? Sauer? Ich? Das sagte ich ihr auch, und Nella fuhr damit fort, auf- und abzugehen.
    »Wenn du dich denn von deiner schlechten Laune verabschieden kannst«, sagte sie, »ich würde nämlich wetten, dass Clara und möglicherweise auch Horace, doch da bin ich mir nicht so sicher, engere Bande mit den Nachbarn verbanden, als man meinen sollte.«
    »Und worauf baust du deine Theorie auf?«
    Sie blinzelte mir zu.
    »Auf dem Unterkleid«, sagte sie. Ihre Stimme klang eifrig. »Komm schon, du hast Horace gesehen! Keine normale Frau würde sich seinetwegen so zurechtmachen, weil sie wüsste, dass es ihn kaltlassen würde. Und wenn man weiß, was man nun über ihn und seine … wie sollen wir es nennen … seine besonderen Vorlieben weiß, besteht doch wohl Grund zu der Annahme, dass Clara sich andere Jagdgründe gesucht hat.«
    Ich gehe einmal davon aus, dass meine hochgezogenen Augenbrauen angedeutet haben, wie wenig ich überzeugt war und bin. Gott bewahre. Wenn Nella sich ihrer verstorbenen Großmutter nahe fühlt, indem sie in ihren durchsichtigen Unterkleidern herumrennt, und wenn diese sie zu weitschweifigen Geschichten über Nachbarschaftsaffären und Notizbücher inspirieren, nun gut. Doch als ich da in Nellas Arbeitszimmer saß, wollte ich sehr viel lieber etwas über die Stunden nach Antonias Tod erfahren. Nella setzte sich, als ich das sagte. Ihr Kleid hatte jetzt Ähnlichkeit mit einer sehr großen, aufgeblühten Tulpe. Sie atmete ein paarmal tief durch. Dann begann sie zu erzählen.

Nellas Theorie
    Um bei der Wahrheit zu bleiben, begann Nella nicht sofort zu erzählen. Sie starrte zunächst einmal so lange leer in die Luft, dass ich damit begann, die Schläge der Standuhr zu zählen, um die Wartezeit auszuhalten. Ich war bei 435 angelangt, als sie endlich den Mund aufmachte.
    »Da gibt es nicht mehr viel zu erzählen«, begann sie, was nicht gerade vielversprechend klang. Ich sah mich jedenfalls gezwungen, ein kleines »Aber« einzuschieben, und da nickte sie auch.
    »Ich komme noch dazu«, sagte sie. »Denn zuerst wurden die Farben seltsam bleich und … das habe ich dir doch erzählt?«
    »Ja, ich denke schon.«
    Nella sah ein paar kleinen Vögeln zu, die auf den Zweigen des Kirschbaums draußen vor dem Fenster saßen. Sie schüttelte den Kopf.
    »Ich hatte noch immer das Gefühl, als wäre etwas Hartes in mir zerbrochen, aber ich wusste nicht länger, was«, sagte sie. »Es fühlte sich an, wie wenn man sich im Spiegel betrachtet, nur dass die, die mich ansah, mir zwar ähnelte, aber tat, was sie wollte. Ich kann gut verstehen, wenn du dich wunderst. Doch so wahr ich hier sitze, ich habe den ganzen Tag bei Mutter gewacht, jede einzelne Minute saß ich an ihrer Bettkante, während die andere auf Liljenholm herumstürmte und Sachen zerschlug und fluchte und sich hysterisch aufführte.«
    »Du meinst das Spiegelbild?«
    Ich tat mein Bestes, unbeeindruckt zu klingen. Sie nickte.
    »In der Halle waren die Schatten besonders lebendig. Sie hüpften aus der Tapete, türmten

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