Das Turmzimmer
zum zweiten Mal. »Die Verwandlung hat ihr schließlich nichts Gutes gebracht. Sie hat sowohl ihren Mann als auch ihre Tochter verloren, als sie eine andere wurde. Und das aus gutem Grund, soweit ich das sehe. Lily war schließlich erheblich netter als Antonia.«
Nellas hohe Hacken versetzten meinem Selbstbild einen gewaltigen Knacks. Als wir voreinander stehen blieben, war sie mehrere Zentimeter größer als ich.
»Ich habe mir gedacht, dass Mutter es mehr als müde war, nett zu sein«, sagte sie, »und im Übrigen habe ich sie verstanden. Ich hatte auch mehr als genug davon.«
Das späte Tageslicht glitt über Nellas Nasenrücken, sodass man ein paar helle Sommersprossen erahnen konnte. Ich wünschte, ich hätte sie sonnengebräunt gesehen, doch in den letzten fünf Jahren hat sie immer nur über ihrer Verlagsarbeit gesessen. Ich zuckte zusammen, als sie die Hand ausstreckte und eine zweifellos wenig kleidsame Locke aus meiner Stirn strich.
»Da, in diesem letzten Moment hatte ich das aufrichtige Gefühl, dass Mutter mich geschützt hat, so lange sie konnte«, sagte sie. »Zum ersten Mal habe ich mich wirklich von meiner Mutter, Antonia Lily, die nur mein Bestes wollte, geliebt und verstanden gefühlt, und dann war es nur …«
Sie schüttelte traurig den Kopf.
»Und dann war es von Anfang bis Ende nur eine verdammte falsche Fährte.«
Gerettet von der Türklingel
Nellas Blick war auf etwas hinter mir gerichtet.
»Da haben wir nur einen von vielen Beweisen für mein Wunschdenken«, sagte sie, und das stimmte. Denn an der Wand über dem kleinen Porträt von Antonia hing noch eine andere Fotografie. Ich hatte den Silberrahmen sofort wiedererkannt. Auf dem Bild waren zwei junge Frauen zu sehen, die sich an der Hand hielten. Sie waren nicht ein und dieselbe, sahen sich jedoch so ähnlich, dass man sie eher für Zwillinge als für Schwestern halten musste. Es war die entzweigerissene Fotografie aus Fräulein Lauritsens Kammer, die jetzt in der Mitte zusammengeklebt war. Antonia und Lily auf ein und demselben Bild.
»Wo hast du Lily denn gefunden?«
Nella zog einen Mundwinkel hoch.
»Ach, du weißt doch, dass der Mensch, dem ich mich in all den Jahren am meisten verbunden gefühlt habe, Laurits war, und da ist mir plötzlich der Gedanke gekommen, dass wir uns möglicherweise auf die gleiche Weise solcher untragbaren Bilder entledigt haben.«
Nellas Tränen tropften auf das Glas, als sie das Bild vom Nagel nahm und die Rückwand entfernte.
»Hier«, sagte sie, und ich sah, was sie meinte. Die eine Hälfte des Bildes hatte jahrelang zwischen der Rückwand und dem dünnen Schutzpapier gesteckt. Man sah noch einen schwachen Abdruck, als hätte die eine Schwester hier gelegen und geschlafen und sich dann von ihrem weichen, rosa Lager erhoben. Nellas Tränen sahen viel zu groß aus, wie sie da auf das Papier tropften. Ich hätte sie ihr am liebsten mit Simons weichem Hemdsärmel abgeputzt, doch stattdessen hob ich das Taschentuch vom Boden auf und gab es ihr. Sie tupfte sich damit die Augen trocken.
»Jedes Mal, wenn ich an die Geschichte von Antonia Lily denke, die nur mein Bestes wollte, fühle ich mich zerrissen«, sagte sie. »Mein ganzes Wunschdenken, das nichts, absolut nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatte. Wie konnte ich nur zulassen, dass es so mit mir durchgegangen ist?«
»Damals hattest du doch keine Ahnung, dass Antonia und Lily zur gleichen Zeit gelebt haben«, wandte ich ein. Nella nahm kaum wahr, dass ich ihr das Bild aus der Hand nahm und die Rückwand wieder befestigte. Sie holte schnell Luft.
»Ich wusste immerhin, dass Mutter ihr ganzes Leben lang Geschichten erfunden hat«, sagte sie. »Ich hatte es doch immer wieder gesehen! Ihre ganzen Bücher, die ein wenig an die Wirklichkeit erinnerten, aber eigentlich doch nur ein kleiner, umgeschriebener Teil davon waren. Und Mutters Spezialität, ist dir das noch nicht aufgefallen? Sie konnte die Geschichten so aufbauen, dass man meinte, man hätte sich alles selbst ausgerechnet. Wer was getan hatte und mit welchem Motiv. Alles passte so gut zusammen, abgesehen von einigen kleinen Details, die einen wurmten und die plötzlich immer größer wurden.«
»Wie als Antonia sagte, dass sie Lily sei?«
Zwei Augenpaare starrten mich an, als ich das Bild zurück an den Nagel hing.
»Schon lange vorher.«
Nellas Stimme war direkt hinter mir.
»Zum Beispiel als Antonia mich bat, Antonia Lilys Fortsetzungsroman zu verbrennen. Wenn ich jetzt darüber
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