Das Turmzimmer
sich um mich auf, und ich verteidigte mich. Mit bloßen Händen und einem Brotmesser, das ich in der Küche gefunden hatte. Ich riss die Schatten in der Mitte durch, doch sie verschwanden nicht, sondern es wurden immer mehr. Ich konnte mich nur noch heftiger verteidigen, nach allen Seiten und mit allen Mitteln. Meine Fingerspitzen haben noch lange danach geblutet, erinnerst du dich?«
Ich begnügte mich damit zu nicken.
»Mitten in all dem kam mir ein Gedanke«, fuhr sie fort, und an dieser Stelle wäre es mir lieber gewesen, sie hätte die Hände nicht erhoben, als würde sie noch immer die Tapete abreißen. Ihre Augen öffneten sich weiter, als es gut war. Man sah das Weiße um die Pupille.
»Ich habe gedacht: Bestimmt ist es Mutter in all den Jahren so ergangen, und jetzt bin ich an der Reihe. Wir fühlen uns wie zwei Personen in einer. Das ist es, was mit uns nicht stimmt.«
Nella musste geweint haben, als ihr diese Erkenntnis gekommen war, denn auch jetzt liefen Tränen ihre Wangen hinunter. Schnell reichte ich ihr mein Taschentuch. Die Bügelfalten ließen es fast wie Papier aussehen, als sie es auseinanderfaltete.
»Plötzlich ergab alles viel mehr Sinn«, sagte sie. »Dass wir Liljenholmer uns zunächst meist wie der eine fühlten und den anderen nur hin und wieder bemerkten. Wie einen brodelnden Vulkan, der im Bauch seinen Anfang nahm und alle Alltagsgefühle überrannte. Doch allmählich trat der andere immer mehr in den Vordergrund. Dieser andere, der alles zerstörte. Wir konnten nichts tun, als ihn gewähren zu lassen, so fühlte es sich an. Und etwas sagte mir, dass Mutter diese totale Verwandlung, die sie durchlebt hatte, gemocht hat. Denk nur einmal daran, wie verächtlich sie als Erwachsene von Lily gesprochen hat! Man hatte doch wirklich nicht den Eindruck, dass sie sich danach gesehnt hat, sie zu sein. Mir kam der Gedanke … an Liljenholms dunkles Schicksal. Mir kam der Gedanke, dass es vielleicht gar nicht um Zwillinge ging, sondern darum, dass die Liljenholmer früher oder später ihre Persönlichkeit veränderten. Dass sie wahnsinnig und in manchen Fällen lebensgefährlich für sich selbst … und andere wurden. Und mir kam der Gedanke, dass Mutter wohl gedacht hat, dass jetzt ich an der Reihe wäre. Damals, als ich Simons Notiz in ihrer Schublade gefunden hatte und sie sagte, dass es mir nicht ähnlich sah, in ihren Dingen zu wühlen. Sie hat wohl befürchtet, dass ich langsam eine andere wurde.«
»Befürchtet?«
»Ja, zwei von ihrer Art hatten auf Liljenholm nicht gleichzeitig Platz.«
Nella sah plötzlich traurig aus.
»Das wäre ein Irrenhaus geworden mit zwei von uns auf Liljenholm«, fuhr sie fort. »Und außerdem zeigt die Geschichte Liljenholms doch, dass nur die wenigsten Liljenholmer das überleben konnten. Antonia hat es geschafft, doch als sie mich vor meiner Flucht nach Kopenhagen in dem Selbstmordzimmer gesehen hat, musste sie wohl mit einer gewissen Enttäuschung einsehen, dass es mein Schicksal war unterzugehen. Meine andere Seite war nicht einmal lebenstüchtig genug, einen Namen zu haben, nicht wahr? Sie war ein hoffnungsloses, halbfertiges Geschöpf.«
Nella hatte das Wort »Flucht« bisher nie in Zusammenhang mit Liljenholm gebraucht. Unglaublich, welch großen Unterschied ein einziges Wort machen konnte. Ihr Blick ruhte auf etwas hinter mir. An der Wand hing ein Bild von Antonia, ein kleines Porträt in einem Silberrahmen. Nella warf den Kopf zurück.
»Ich rede hin und wieder mit ihr. Erzähle ihr, was sie meiner Meinung nach hätte besser machen können und so weiter.«
Das mussten wahrhaftig lange Gespräche sein, dachte ich und hätte es ihr auch gesagt, hätte Nella nicht ihre Geschichte bereits wiederaufgenommen.
»Ich kann mich erinnern, dass Liljenholm sich aufgelöst hat und dass meine Beine sich aufgelöst haben. Wäre mein Leben ein Glas voller Perlen gewesen, wäre plötzlich ein Faden durch alle gezogen worden. Ich verstand plötzlich, warum es nur Bilder von einem Zwilling gab und warum alle, die Liljenholm nach dem Erscheinen von Lady Nellas geschlossene Augen besucht haben, nur Antonia und nie Lily begegnet sind und warum ich mich nicht an beide, sondern nur an die eine erinnern konnte. Ja, selbst warum alle Kinder auf Liljenholm derartig von der Außenwelt abgeschirmt waren, dass wir nie auch nur einen einzigen Freund außerhalb unserer Mauern hatten. Nicht einen einzigen Zeugen für das, was mit uns passierte. Ich verstand auch …
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