Das Turmzimmer
Selbstmordzimmer gelandet«, fuhr sie fort. »Frag mich nicht, wieso oder weshalb das Fenster weit offen stand. Es war viel zu kalt für offene Fenster. Besonders wenn man auf der Fensterbank stand und sich still über das Rosenbeet lehnte, das eher einem dunklen Gebüsch glich.«
»Und dann …?«
»Ja, dazu komme ich noch! Da stand mein Spiegelbild also eine Weile, und ich wette, sie hoffte darauf, noch einmal gerettet zu werden. Von Liljenholm oder Laurits oder wem auch immer, der sich Sorgen um sie machte. Doch stattdessen hielt Liljenholm zusammen mit ihr den Atem an, ungeachtet, wie weit sie sich vorbeugte. Vielleicht dachte sie, dass die eine Zahl genauso gut wie die andere war. Zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei … Doch als sie bei eins angekommen war, hörte sie ein Klingeln, das sie an der Fensterbank festfrieren ließ. Zuerst dachte sie, dass der Ton nur in ihrem Kopf sei. Dann wurde ihr klar, dass sie ihn schon einmal gehört hatte. Und endlich sah sie ein … ja, wer hätte geglaubt, dass etwas so Simples wie eine Türklingel mir schließlich das Leben retten sollte?«
Nella hob den Kopf. Ihr Blick war meinem sehr nah, und als sie mich küsste, dachte ich an all die Sommer, die auf uns warteten.
August 1936
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Lillemor und Mary Pickford
Ich habe mich auf diesen Augenblick gefreut, lieber Leser. Hier beginnt nun nämlich mein Teil an der Geschichte. Ungefähr einen Monat vor Nellas letzter Begegnung mit Antonia. Wenn ich Sie wäre, würde ich allmählich vor Neugier platzen. Wer bin ich, zum Beispiel? Und wie wichtig mag ich für eine Geschichte sein, die nicht einmal meine eigene ist?
Ich könnte Ihnen jetzt das Blaue vom Himmel herunterfantasieren, und ich muss zugeben, dieser Gedanke hat mich gestreift. Es passiert allzu selten, dass ich mich Agnes von Krusenstjerna (mein großes Vorbild) nennen und jemanden dazu bewegen kann, das zu glauben. Doch wie Nella sagt, ist es wohl kaum der Mühe wert, Sie davon zu überzeugen, dass ich die verrückte schwedische Autorin Agnes von Krusenstjerna bin. Zum einen hat sie letztes Jahr Selbstmord begangen und zum anderen war sie vier Jahre älter als ich. Ich bin zwar bekanntlich mit meinem Alter zufrieden, aber trotzdem. Es gehört nun einmal nicht zu meinen Gewohnheiten, mich älter zu machen, als ich bin. Oder tot, was das angeht.
Lassen Sie mich also bei der Wahrheit bleiben, der zufolge mein Name Agnes Kruse ist. Wenn ich Sie wäre, hätte ich einen spektakuläreren Namen erwartet, und wenn Sie denken, dass er zumindest ein wenig an den meines Vorbilds erinnert, dann liegen Sie richtig. Aber nur fast. Mein Name ist lediglich ein Sammelsurium zufälliger Umstände.
Im Kinderheim mit den frohen Gesichtern im Vodroffsvej nannten sie mich Agnes. Die Umgebung inspirierte sie wohl zu nichts Besserem. Und als die Witwe Kruse mich zu sich nahm, bekam ich ihren Nachnamen, da ich keinen anderen hatte. Seit Nella mich gebeten hat, ihren Teil mit der Geschichte von Antonia und dem Brieföffner beginnen zu lassen, habe ich überlegt, ob ich meinen auch mit der ersten Episode beginnen lassen soll, an die ich mich erinnere. Wenn sie tatsächlich wichtig ist, führt wohl kein Weg daran vorbei, habe ich gedacht. Also hier ist sie:
An dem Sommertag im Jahr 1902, an dem mich die Witwe Kruse aus dem Kinderheim holte, war das Licht so hell, dass alle die Hände schützend über die Augen legen mussten. Das tat sie auch. Von meinem Versteck hinter der Gardine sah ich sie um die Ecke des Vodroffsvej biegen, den Platz überqueren und die rechte Treppe wählen. Vor allem ihr Kleid fiel mir auf. Es war weiß und hatte viele Lagen, die wippten, wenn sie ging, und an den Füßen trug sie Schuhe mit hohen Absätzen. Nicht ordinär hoch, doch hoch genug, dass sie auf die Stufen achten musste, die sie hochstieg. Deshalb sah sie mich nicht am Fenster. Doch ich sah genug von ihr, um mit Sicherheit sagen zu können, dass sie sehr viel schöner war als all die Frauen, die wir gesehen hatten, wenn wir Kinderheimmädchen spazieren geschickt wurden.
»Man soll nicht starren, Agnes! Hörst du?«, hatte die Erzieherin mich angefahren, während sie mich am Kleiderärmel weiterzog. Die Erinnerung ist sehr diffus, doch ich meine, dass sie mich genauso angefahren hat, als sie mir am gleichen Morgen das Haar geflochten hatte.
»Du musst der Witwe Kruse die Hand geben und ›Guten Tag, Frau Kruse, und tausend Dank, dass Sie mich zu sich
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