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Das Turmzimmer

Das Turmzimmer

Titel: Das Turmzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonora Christina Skov
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nachdenke, bin ich mir sicher, dass sie genau gewusst hat, was sie tat. So wichtig war es nun auch wieder nicht, dass die albernen Fortsetzungsromane vor ihrem Tod im Kamin verbrannten, nicht? Mutter wollte , dass ich Antonia Lilys Werke las, weil sie den Samen der Geschichte von Antonia Lily in mir pflanzen wollte, verstehst du? Plötzlich sprossen die Details doch wie Unkraut. Was schon komisch war, das heißt, komisch ist das wohl nicht. Man muss nicht viele von Mutters Geschichten gelesen haben, um zu wissen, dass die Heldinnen am Ende ausnahmslos wie die reinsten Heiligen dastehen. Wir sollen um jeden Preis glauben, dass sie nur für die anderen da sind. Leben und leiden für diejenigen, die sie lieben. Und was habe ich getan? Ich bin ihr direkt in die Falle getappt. Ich dachte ernsthaft, dass Mutter auch so war.«
    Nella kniff die Augen zusammen und trat zu dem Bild.
    »Ich wünschte, ich wüsste mit Sicherheit, wer auf dem Foto wer von den beiden ist«, sagte sie. »An manchen Tagen glaube ich, dass die Rechte hier Lily sein muss, weil sie von dem Bild abgerissen wurde, und an anderen Tagen bin ich mir sicher, dass sie Antonia ist, weil sie schöner ist, und das war Antonia ja. Antonia zufolge, wohlgemerkt. Das quält mich. Ich weiß nicht, ob du dir das vorstellen kannst, doch hier zu stehen und zu wissen, dass eine von den beiden meine Mutter ist, ohne zu wissen welche, ist nahezu unerträglich.«
    Ich konnte ihr sehr gut folgen. Es würde mich in der Tat auch quälen. Nella machte eine ausladende Armbewegung, sodass das Bild beinahe auf dem Boden gelandet wäre.
    »Man sollte zumindest wissen, wer die eigene Mutter ist! Das ist einfach unzumutbar!«
    Rote Flecken breiteten sich auf ihren Wangen aus.
    »Entschuldige, ich weiß natürlich, dass du nicht weißt …«
    Ich hatte in diesem Zusammenhang gar nicht an mich gedacht und bestimmt nicht die Absicht, jetzt damit anzufangen.
    »Ich bin absolut nicht einig mit dir, dass alles, was du nach Antonias Tod herausgefunden hast, reines Wunschdenken ist«, sagte ich, hoffentlich mit einer angemessenen Bestimmtheit. »Es besteht kein Zweifel daran, dass die Geschichte von Antonia Lily … ja, wie soll man sagen … ziemlich weit von der Wahrheit entfernt war, doch gleichzeitig lässt sich nicht bestreiten, dass sie ihr auch unangenehm nahekam.«
    Eigentlich hatte ich Nella sagen wollen, wie beeindruckt ich davon war, was sie unter den denkbar ungünstigsten Umständen herausgefunden hatte. Doch sie schüttelte so heftig den Kopf, dass ich schwieg und mir stattdessen meinen Teil dachte. Zum Beispiel, dass ich selbst nicht auch nur halb so viel herausgefunden hätte, aber ich bin schließlich auch nicht die Tochter von Dänemarks größter Schauerromanautorin. Nichtsdestotrotz verstand ich sehr gut, dass Nella sich an der Geschichte von Lily, die zu Antonia geworden war, festkrallte, statt auch nur den kleinsten Schritt in Richtung der Geschichte zu tun, die tatsächlich auf sie wartete.
    Denn ohne zu viel zu sagen, kann ich verraten, dass das verdammte Glas Perlen, das Nellas Leben und so gesehen auch das Liljenholms darstellte, einige Stunden nach dem Tod der großen Autorin umkippen und jede einzelne Perle wieder vom Faden gleiten würde. Ich komme mir unbarmherzig vor, während ich das schreibe. Nicht zuletzt Ihnen gegenüber, lieber Leser, der Sie gerade durch Nellas ellenlange Theorie gezogen wurden. Doch leider ist das die Wahrheit. Nicht so verwunderlich, dass ich mich über lange Perioden von ihr ferngehalten habe.
    Nella strampelte sich die Schuhe von den Füßen. Ihre Stirn an meinem Hals war warm. Es kam mir so vor, als stünden wir lange so da, doch das kann auch mein bescheidenes Wunschdenken gewesen sein. Man dehnt die Augenblicke aus, bis sie den Raum einnehmen, von dem man gerne möchte, dass sie ihn haben, nicht wahr? Jedenfalls hat Nella unzählige Male erwähnt, dass sie mir alles erzählt hat, was es zu erzählen gab.
    »Bis auf eins«, flüsterte sie in meine Halsgrube, und das entsprach der Wahrheit. Es gab etwas, das sie nicht erwähnt hatte, und mein Magen fühlte sich wie im Tivoli, wenn man die Rutschbahn hinaufklettert und weiß, dass man zehn Sekunden später mit hundert Stundenkilometern nach unten saust.
    »Es war Abend geworden …«
    Sie hob den Kopf, nur einen Augenblick, und warf mir einen ihrer langen Blicke zu. Einer von denen, bei denen ich mir nie sicher war, was sie zu bedeuten hatten.
    »Mein Spiegelbild war im

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