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Das Turmzimmer

Das Turmzimmer

Titel: Das Turmzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonora Christina Skov
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sie, und ihr Seufzen wurde mit jedem Jahr, das verging, tiefer. Das Schlimmste war nicht, dass ich zu groß wurde. Fast ebenso groß wie ein Mann und ebenso breitschultrig. Das hätte man zur Not mit flachen Schuhen, den richtigen Ausschnitten und einem feminin gebeugten Nacken kaschieren können, so viel wusste ich aus den Unterhaltungen der Damen in der Wäscherei. Ich wusste auch, dass sie sich oft hinter meinem Rücken über mich unterhielten, denn langsam zweifelte man daran, ob es mir überhaupt gegeben war, eine richtige Dame zu werden , wie Lillemor es ausdrückte. Sie meinte das nicht böse, glaube ich. Sie verstand nur nicht, was ich seit Jahren wusste. Nämlich dass ich nie ihr, Agathe oder den eleganten Damen ähneln würde, die sich in unserem Hinterhaus die Klinke in die Hand gaben. Das war zu der Zeit, in der sich Mary Pickford einen Namen mit Kleine-Mädchen-Rollen in Filmen wie The Poor Little Rich Girl oder Rebecca of Sunnybrook Farm machte und ihre Berühmtheit die Nachfrage bei Agathe Couture so in die Höhe schnellen ließ, dass Lillemor das gesamte Hinterhaus kaufen und eine Nähstube über unserer Wohnung einrichten konnte. Es waren goldene Zeiten für Agathe Couture, aber es waren keine goldenen Zeiten für mich. Und eines Tages, als ich neunzehn und gerade auf dem Weg ins Bett war, hörte ich zu viel. Es waren Lillemor und Herr Svendsen, der vermutlich Hans hieß und sie hin und wieder küsste, doch nie, wenn sie glaubten, dass ich es sah. Sie standen vor unserer Haustür, direkt unter dem Schild Waschen und Mangeln vom Feinsten, und sie hätten daran denken müssen, dass mein Fenster offen stand. Sie hatten schon oft dort gestanden, und ich hatte, bevor ich die Gardinen zuzog, auch schon gesehen, dass er sie in den Arm nahm. Aber ich hatte sie noch nie auf diese Weise über mich reden hören.
    »Ich mache mir Sorgen um sie«, hörte ich Lillemor sagen. »Was soll nur aus einer wie ihr werden? Am Kopf fehlt es ihr nicht, aber … irgendetwas stimmt absolut nicht mit ihr, das siehst du wohl auch.«
    Ich hörte, dass sie weinte, und Herr Svendsen räusperte sich, sichtlich unangenehm berührt.
    »Das war wohl nicht anders zu erwarten«, sagte er. »Kinder aus dem Kinderheim sind nun einmal Gesindel, so viel hättest du wissen müssen, und sie … nun ja, wir wissen schließlich beide, woher sie kommt!«
    Damals dachte ich, dass er von dem Kinderheim sprach, doch später habe ich mich oft gefragt, ob er mehr gewusst hat als ich. Das tue ich übrigens immer noch. In meiner Welt ist Lillemor die einzige Mutter, die ich je gehabt habe, und als ich hörte, wie sie ihm recht gab, weinte ich. Ich glaube tatsächlich noch immer, dass ein Teil in mir manchmal weint. Derselbe Teil, den in Lillemors Hinterhaus zu viele Augen angestarrt haben und über den zu viel geflüstert worden ist. Ist das wirklich Frau Kruses Tochter? Nein, sie ist nur ihre Pflegetochter, das sehen Sie doch! Ein Jammer, dass sie nicht Agathe ist! Ja, man sieht ihr schon an, dass sie Gesindel ist.
    Letzteres flüsterten die Leute nicht. Das flüsterte ich selbst. Und wenige Monate später fasste ich einen Entschluss, der nicht anders hätte ausfallen können.

Ein Glücksfall
    »Ich ziehe aus«, sagte ich eines Abends, als Lillemor auf dem Weg hinunter in die Wäscherei zu Fräulein Iben war. Sie roch noch immer nach Rosen und Zimt, als sie sich zu mir umdrehte, doch die Jahre hatten das leichte Rosa von ihren Wangen gewaschen, und um ihre Augen entdeckte ich ein Netz feiner Fältchen, die früher nicht da gewesen waren. Sie wandte das Gesicht ab.
    »Ja, das ist wohl das Beste, Agnes«, sagte sie, und so hat sie mich seitdem genannt. Agnes und nie wieder Agathe. Nicht ein einziges Mal. Im Profil glich ihr Gesicht dem einer Porzellanpuppe. Nicht so verwunderlich, dass die Männer sie immer umschwärmt haben, dachte ich, doch es bedeutete ihr nichts mehr, wenn ich ihr das sagte.
    »Du weißt, dass ich dich lieb habe, Agnes, und das wird auch immer so bleiben«, beteuerte sie zu dem Fenster hin, das uns dunkel widerspiegelte, und ich antwortete, dass ich das wusste. Meine Stimme klang ebenso tot wie ihre, ihre Hand war nicht länger warm, als sie die meine drückte und mir sagte: »Was immer auch passiert, Agnes.«
    Ich glaube ihr, dass sie das so meinte. Sie hat es jedenfalls wirklich versucht, und das habe ich auch. Ausschließlich aus diesem Grund machte ich nach einigen Jahren, die ich am liebsten vergessen würde und in denen ich

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