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Das Turmzimmer

Das Turmzimmer

Titel: Das Turmzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonora Christina Skov
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nehmen‹, sagen. Und du darfst sie nicht anstarren, hörst du?«
    Ich hatte gedacht, dass die Witwe Kruse sehr alt sein müsste, da sie Witwe war, doch die Witwe Kruse, die ihren schönen, runden Arm hob und an der Tür schellte, hatte eine glatte Haut und schwarze Haare, die in ordentliche Wellen gelegt waren. Ihre Lippen waren rot und voll. Sie sagte Guten Tag zu der Vorsteherin. Und plötzlich hieß die Vorsteherin Fräulein Pontoppidan, und ihre Stimme klang wie die eines singenden Vogels.
    »Kommen Sie herein! Kommen Sie herein! Ich hole Ihnen gleich die kleine Agnes!«, sagte sie, und Witwe Kruses hohe Absätze klapperten.
    »Ach, ich glaube, dass ich sie schon gefunden habe«, sagte sie. Ihre Hand auf meiner Schulter war sehr warm. Sie roch nach zwei Dingen, die ich kannte: Rosen und Zimt. Vielleicht drehte ich mich deshalb um und schlang die Arme um ihre Beine, oder vielleicht war ich auch einfach nur so erleichtert, dass ich bald auch eine richtige Mutter haben würde wie die Mädchen in den Büchern, die die Fräulein uns abends vorlasen.
    »Agnes!«
    Die Vorsteherin klang zornig, doch die Witwe Kruse lachte nur, sodass ich es bis in ihre Beine spüren konnte. Sie bückte sich und hob mich hoch. Aus der Nähe glich ihr Gesicht ein wenig den rosa Blumen, die eine Zeit lang auf dem Rasen hinter dem Kinderheim geblüht hatten. Die Vorsteherin sprach weiter.
    »Agnes! Nimm die Finger aus Frau Kruses Gesicht!«
    »Ach, lassen Sie sie doch«, lachte der rote Mund der Witwe Kruse. »Sind das Agnes’ Sachen, die Sie uns in den kleinen Koffer gepackt haben, der bei der Tür steht? Was hältst du davon, wenn wir nach Hause laufen, meine Liebe? Es ist ein gutes Stück Weg, aber dann können wir uns etwas besser kennenlernen. Ich fände es schön, wenn wir das täten.«
    Meine Schuhe hatten Spangen, die klirrten, als sie mich vorsichtig absetzte. Ich verneigte mich, so tief ich konnte. Ganz bis auf den Boden.
    »Sehr gern, Witwe Kruse!«, sagte ich mit meiner klarsten Stimme. Ihr Kleiderstoff raschelte.
    »Du kannst mich Lillemor nennen«, sagte sie, sobald wir das Kinderheim hinter uns gelassen hatten. Ich hüpfte auf und ab, sodass die Damen auf der Straße sich umdrehten.
    »Lillemor, heißt du so?«
    Lillemors Handtasche war ebenso weiß wie ihr Kleid. Sie war stehengeblieben, um nach irgendetwas darin zu suchen. Eine Kette mit einem Dagmarkreuz. Als sie die Kette um meinen Hals gelegt und zugemacht hatte, löste sie vorsichtig die Brosche, die ich immer trug, von meinem Kleid. Ich weiß nicht genau, woher ich sie hatte. Sie lässt sich öffnen, und darin ist eine Kamee mit einem Bild von einer Königin, schätze ich. Heute trage ich sie immer an meinem Revers. Damals wollte ich protestieren, als ich sah, wie sie sie in ihre Tasche gleiten ließ, doch der Taschenspiegel, den sie mir gab, lenkte mich ab.
    »Also, ich heiße Lillemor«, sagte sie. Meine Wangen erröteten in dem silbernen Rahmen des Spiegels. Sie streichelte sie und lächelte nur für mich. »Meine Eltern müssen gedacht haben, dass ich einmal eine gute Mutter werde, meinst du nicht? Wenn sie mich so genannt haben, ›kleine Mutter‹.«
    Lillemor war tatsächlich schon einmal Mutter gewesen, das war eins der Dinge, die ich bald herausfand. Sie lachte zum Beispiel nicht immer, obwohl ich tat, was ich konnte, um sie zum Lachen zu bringen. Um bei der Wahrheit zu bleiben, weinte sie ziemlich oft, wenn sie glaubte, ich würde sie nicht hören, denn ihr Mann war auf dem Meer umgekommen und ihre kleine Agathe ein paar Monate, bevor mein Leben in Nyhavn begann, an Scharlach gestorben. Hier, in einem der engen Hinterhäuser wohnte Lillemor. Das Gute war, dass Agathe und ich nur wenige Tage nacheinander geboren worden waren. Das bedeutete nämlich, dass Agathes ganze Sachen und ein Teil ihres Spielzeugs in meinen Besitz übergingen. (Ich war schon damals groß für mein Alter, sodass wir all die kleinen, netten Kleidchen aussortieren mussten.) Schon bald verwechselte Lillemor die Namen.
    »Agathe!«, rief sie mich mit so froher Stimme, dass ich es nicht übers Herz brachte, sie daran zu erinnern, dass ich Agnes hieß. Warum sollte ich auch? Ich wäre viel lieber das kleine, blonde Mädchen mit den Korkenzieherlocken und dem Dagmarkreuz gewesen, das in einem Rahmen über meinem Bett hing und lächelte. Das Bett quietschte und war aus Eisen wie die Betten im Kinderheim, doch es war nicht grau, sondern leuchtend weiß, und jeder Bettpfosten endete in einer

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