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Das Turmzimmer

Das Turmzimmer

Titel: Das Turmzimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonora Christina Skov
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gesehen und begriffen hatte, dass ihre Glanzzeit als Stummfilmstar höchstwahrscheinlich vorbei war. Lillemor leitete jedoch noch immer Waschen und Mangeln vom Feinsten . Als sie zum Abendessenstisch hin nickte, stellte ich, wie schon so oft, fest, wie gut sie aussah. Wesentlich jünger als siebzig, wenn man von einer beginnenden Steife in den Gliedern und den dunklen Flecken absah, die das Alter selbst bei den Widerstandsfähigsten hinterlässt.
    »Ich hole jetzt den Braten«, sagte sie. Die hochhackigen Schuhe musste sie meinetwegen angezogen haben. Sie trug sie sonst nie im Haus. Ich hörte sie drüben in der Küche hin und her gehen, die Scharniere des Ofens quietschten.
    »Soll ich dir helfen?«
    »Nein, nein, setz dich einfach, Agnes! Nimm den guten Stuhl, ich komme gleich.«
    Ich versuchte, nicht zu dem vergoldeten Rahmen hinzusehen, der einsam über dem Sofa hing und ein blondes Mädchen zeigte, doch wie immer fing er meinen Blick ein. Das Dagmarkreuz stand ihr besser, als es mir je gestanden hatte. Ja, auch lebendig zu sein stand ihr besser, als es anderen stand. Es spielte keine Rolle, dass ihre eine Wange ein langer Riss zierte, von damals, als das Bild heruntergefallen und das Glas zerbrochen war. Ich war nicht älter als zehn, als es passiert war, und ich kann mich nur noch daran erinnern, dass Lillemors Augen viel zu dunkel waren, als sie das blonde, lockige Gesicht von den Glasscherben auf dem Boden befreite.
    »Du hast das nicht absichtlich getan, Agnes, nicht wahr?«, fragte sie von dort unten. Ich weiß nicht mehr, was ich geantwortet habe. Das ist seltsam. Es gibt so unglaublich viele Fragen, an die ich mich erinnere, und so unglaublich viele Antworten, die ich vergessen habe. Lillemors Stimme hinter mir klang entschuldigend.
    »Kannst du dich daran erinnern, wie du es gehasst hast, fotografiert zu werden? An all die Male, die ich dich mit zum Fotografen geschleppt habe und die du dich geweigert hast zu lächeln?«
    Sie sagte das, damit ich nicht glaubte, sie würde Agathe mir vorziehen, weil sie über ihrem Sofa hing und nicht ich, von der es nirgendwo ein Bild gab. Lillemor hatte einfach keine Bilder von mir als kleines Mädchen (oder als Erwachsene, obwohl sie das nicht sagte), doch dafür hatte sie die Erinnerungen an mich. Unsere Unterhaltungen lebten von ihnen, seit ich ausgezogen war, und eigentlich war ich froh darüber, wenn sie nur ihren Blick aufhellen konnten, so wie jetzt.
    »Du warst so ein eigensinniges Kind, Agnes! Die Grimassen, die du auf jedem Bild geschnitten hast! Und erinnerst du dich, wie ich dir das schöne, weiße Kleid für den Fotografen angezogen habe und du dich auf dem Weg dorthin bekleckert hast? Mit Marmelade, nicht? Man konnte es nur noch wegwerfen. Aber jetzt setz dich! Ich hoffe, der Braten ist zart. Er ist von dem guten Metzger und sollte es also sein.«
    »Ich bin sicher, dass er gut ist, Lillemor. Ich bin einfach froh, hier zu sein.«
    »Ja, ich freue mich auch so, dass du hier bist, meine Liebe. Bedien dich!«
    Die Geschichte von dem Fotografen passte zu dem Braten und dem Wein in den Gläsern. Sie ging gut herunter, doch Lillemor war still geworden. Sie sah von mir zu der letzten Kartoffel auf ihrem Teller, stach prüfend mit der Gabel hinein, und ich wusste, was kommen würde.
    »Dann … läuft es also gut … mit … wie heißt sie doch gleich … Paula?«
    Ihr Hals bekam immer rote Flecken, wenn sie fragte, aber sie fragte trotzdem. Mir war vollkommen klar, dass es ein Ausdruck für das Gleiche wie Agathes Ehrenplatz über dem Sofa war. Lillemor hatte das so gemeint, als sie gesagt hatte, was immer auch passiert .
    »Wir haben Schluss gemacht. Es ist inzwischen eine Weile her.«
    »Es tut mir leid, das zu hören, Agnes. Das tut es wirklich.«
    Ich hätte einen Platz an der Wand einem Platz in der langen Reihe von Lillemors Sorgen vorgezogen. Der perlmuttfarbene Nagellack auf ihren Nägeln glitzerte, als sie ihre Hand auf meine legte.
    »Agnes?«
    In ihren Händen war Kraft, und das liebte ich an ihnen, doch ich wich ihrem Blick aus.
    »Ich würde dir so gerne Geld geben, hörst du? Magst du es nicht doch annehmen? Ich weiß, dass es dir nicht gut geht, irgendetwas belastet dich, das sehe ich. Warum lässt du dir nicht helfen? Es gibt nichts, was ich lieber täte.«
    Ich richtete mich auf und wollte gerade sagen, dass mich absolut nichts belastete, doch sie unterbrach mich.
    »Ich weiß doch, dass du seit Jahren davon träumst, ein Buch zu schreiben. Einen

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